Von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft

Seite 3: Abkehr von den Institutionen und demokratische Kultur

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Wir haben bislang die möglichen Konturen einer zweiten Moderne auf einer sehr allgemeinen, strukturellen Ebene diskutiert, obgleich Sie ja immer wieder betonen, daß die Veränderungen tief ins Alltagsleben der einzelnen einwirken. Als Individuen leben wir in Regionen und bestimmten Räumen und nicht im Cyberspace oder im globalen Raum. Wie reagieren denn die einzelnen auf diesen Eintritt in den neuen Möglichkeitsraum, wenn sie nicht nur in Angst, blinden Aktivismus oder Erstarrung verfallen? Und worin könnte denn eine neue Macht des Lokalen und Regionalen trotz oder wegen der Globalisierungsprozesse bestehen?

Ulrich Beck: Ein großer Teil der Veröffentlichungen im Rahmen der von mir herausgegebenen Reihe zur zweiten Moderne wird sich genau damit befassen. In meinem Buch "Kinder der Freiheit" versuche ich in Zusammenarbeit anderen Autoren beispielsweise zu zeigen, daß die Vorstellung, die nachwachsende Generation sei einfach politisch desinteressiert und bleibe deswegen aus den Institutionen weg, zu oberflächlich ist. Das gibt es sicherlich auch. Man darf keinen falschen Idealismus predigen. Aber es handelt sich in dem Sinne um Kinder der Freiheit, daß bestimmte Spielräume der Entscheidung, ein bestimmtes Selbstbewußtsein oder Versuch, Verantwortung für die eigene Lebensführung zu übernehmen, selbstverständlich wurde. Das läßt sich nicht mehr ohne weiteres mit den existierenden institutionellen Verarbeitungsformen vereinbaren. Das sieht man an dem Wegbleiben der Jugendlichen aus den Gewerkschaften oder Parteien. In Großbritannien ist beispielsweise das Durchschnittsalter der Mitglieder der konservativen Partei schon über 60 Jahre. Bei uns ist das noch nicht ganz so dramatisch.

Es gibt also eine große Diskrepanz zwischen der Selbstdefinition der Jugendlichen und den Sollensrichtlinien, die von den Institutionen über das Verhalten der nachwachsenden Generation entwickelt werden. Hier deutet sich ein interessanter Konflikt an, weil es vielfältige Aktivitätsformen und Prioritäten der Jugendlichen gibt, die völlig jenseits von dem liegen, was die Institutionen als normale Tätigkeit betrachten. Ich will das nicht idealisieren, als ob daraus die neue Revolution entstünde, aber die moderne Gesellschaft entwickelt sich in einen interessanten Konflikt hinein. Es gibt eine wuselige und wieselige Aktivität von Beschäftigungs- und Engagementformen, wovon die Institutionen kaum berührt werden oder dadurch austrocknen. Diese Aktivitätsformen finden bislang noch keinen Eingang in die Institutionen. Während der Kirchentage sieht man das vielleicht noch, aber im Alltag der Kirchen, Gewerkschaften oder Parteien ist davon nichts zu merken.

Es gibt, was man auch in den Computernetzen sieht, offenbar ein großes Bedürfnis nach Gemeinschaften, die vielleicht nicht so verpflichtend sind wie die alten Institutionen und die keine starre Organisationsstruktur besitzen. Man will ähnlich wie zwischen Fernsehprogrammen auch zwischen Gemeinschaften zappen, aber gleichzeitig eine neue Verbindlichkeit und Vertrautheit. Der Begriff der Gemeinschaft, beispielsweise der virtuellen Gemeinschaft, ist gegenwärtig auch in den USA hoch besetzt. Gemeinschaft im Gegensatz zur Anonymität der Gesellschaft ist aber doch eine alte Formel, und sie hat oft auch etwas Antimodernistisches.

Ulrich Beck: Das ist die Hilflosigkeit der alten Begriffe. Beim Begriff community oder beim Kommunitarismus in den USA wird Gemeinschaft sehr stark mit Entscheidung oder Wahl zusammengebracht. Es geht nicht um einen Zwangszusammenhang. Das ist in unserem Gemeinschaftsbegriff nicht enthalten. Das ist immer das Organische, das Ganze, das Vorgegebene, in das man sich einfügen muß.

Es ist wirklich ein dramatisches Mißverständnis, wenn man annimmt, daß die Individualisierungsprozesse, die im Alltag auch einen wichtigen Übergang zur zweiten Moderne darstellen und die Menschen aus den traditionellen Sicherheitssystemen herauslösen, jede Art von Gemeinschaft zerstören würden. Sie führen vielmehr zu einem neuen Hunger nach sozialen Beziehungen. Es ist nur nicht klar, wie diese organisiert werden sollen.

Das hat Talcott Parsons übrigens schon sehr früh gesehen. Er hat gesagt, daß in den Individualisierungsprozessen der Begriff der Liebe als direkte und emotionale Zuwendung zu anderen und Gegenständen sehr wichtig wird. Liebe hat eigentlich die Aufhebung der Individualisierung zum Programm. Das ist aber immer widersprüchlich, weil man gleichzeitig die Individualisierung beibehalten will. Es gibt also eine starke Suche nach "Gemeinschaft", die man nicht mit den alten Formen des organischen Zusammenlebens verwechseln darf. Dahinter verbirgt sich eine wichtige Frage für den Alltag der zweiten Moderne: Wie kann das eigene Leben, wie kann existentielle Freiheit in soziale Verpflichtung und Wechselseitigkeit eingebunden werden? Dafür gibt es noch keine Rezepte.

Die Menschen leben, wie Sie sagen, individueller, sie wechseln ihre Identitäten, Bedürfnisse, Meinungen, Beziehungen, Gemeinschaften oder Arbeitsweisen, sie fühlen sich nicht mehr verpflichtend verankert in sozialen, nationalen oder regionalen Strukturen. Wie kann denn aus solchen individualisierten Massen ein demokratisches System hervorgehen oder stabil bleiben? Sollte man der Wuseligkeit und Wieseligkeit entsprechend eher ein anarchistisches Modell der direkten und permanenten Demokratie einrichten, wodurch sehr schnell auf wechselnde Stimmungslagen reagiert werden könnte? Andererseits fehlen dann der lange Atem, die komplizierten, bremsenden Verfahren der Entscheidungsfindung und möglicherweise die Verpflichtung, einen solidarischen Ausgleich der Interessen zu schaffen. Das geht den von Ihnen geschilderten Kindern der Freiheit womöglich ab und stellt dann eine Gefahr für die Demokratie dar.

Ulrich Beck: Da gibt es durchaus eine Gefahr. Wenn man überhaupt fragt, wie diese wieseligen, vielfältigen, nicht mehr festgelegten, individualisierten Handlungszusammenhänge integriert werden, dann gibt es darauf aus der Soziologiegeschichte vier Antworten: Integration durch Religion, Integration durch Blutopfer oder Krieg, Integration durch Erwerbsarbeit und Wohlfahrtsstaat und Integration durch politische Freiheit. Diese vierte Integrationsform ist bislang noch nicht genügend diskutiert worden. Durch gemeinsames Handeln stiftet man Zusammenhänge. Die Frage verschärft sich dadurch, daß wir heute vor dem Problem stehen, ob eine Gesellschaft ohne Absicherung durch die Religion, durch Blutopfer oder Krieg und durch Erwerbsarbeit bei gleichzeitiger Zerfieselung in alle möglichen Handlungszusammenhänge integriert werden kann.

Schon deswegen ist es wichtig, sich der urdemokratischen, lange zurückreichenden und etwa von Toqueville sehr anschaulich dargestellten Integrationsform der politischen Freiheit oder der Selbstorganisation zuzuwenden. Gerade durch die Erfahrung der Teilhabe an praktischen Handlungszusammenhängen und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen entstehen Bindungen. Aber auch gegenüber dieser neuen Orientierung kann man Ihre Frage neu formulieren. Deswegen ist es nötig, das etablierte politische System mit seinen Institutionen, den Parteien, Parlamenten und Verwaltungen, zu reformieren, weil sie auch nicht mehr voll finanzierbar sind. Sie sollten sich auf bestimmte Aufgaben konzentrieren, die teilweise auch neu routinisiert werden müssen. Daneben sollte sich aber, wenn man eine solche Utopie überhaupt entwickeln will, eine stärker selbstverantwortliche Bürgergesellschaft entstehen , die in vielen Bereichen Probleme sehr viel leichter und direkter lösen kann. An sie muß wirkliche Macht delegiert werden.

Oft ist es aber doch so, daß dann, wenn Bürger sich zusammenfinden und ihre Interessen formulieren oder beispielsweise mittels Bürgerentscheide durchsetzen, in aller Regel partikulare Ziele verfolgt werden. Die Menschen wollen ihre Wohnviertel sichern, ihre ökologischen Bedürfnisse einlösen, ihren Wohlstand bewahren, bestimmte Projekte verhindern oder Unliebsames auslagern, auch wenn dies dem Allgemeininteresse schadet. Es prägt sich also ein lokaler Egoismus aus, der nicht gerade für den weiteren Ausbau einer Bürgergesellschaft in Ihrem Sinne spricht, auch wenn dies abstrakt natürlich wünschenswert wäre.

Ulrich Beck: Man müßte stärker unterschieden, welche Themen delegiert und welche Entscheidungsverfahren eingeführt werden sollen. Ich meine, um den Bogen zum Anfang unseres Gespräches wieder zu schlagen, daß nicht nur für Menschen, die von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen oder arbeitslos sind, sondern auch im Wechsel zwischen denen, die erwerbstätig sind und anderes tun können und wollen, neue Zentren der selbstorganisierten Aktivität entstehen sollen. Diese Menschen müßten Räume bekommen und machen können, was sie wollen. Das können Umweltschutzinitiativen, aber auch sogar Initiativen sein, die sich gegen Fremde richten. Das müßte man alles offen lassen.

Man müßte also politische Initiativen als Gegenpol zur Erwerbsarbeit fördern, wodurch sich Aktivität entzünden kann. Das ist kein idealistisches Modell. Wir haben bislang nur eine zu idealistische Vorstellung von Demokratie. Sie ist nicht die effizienteste politische Organisation, die eine rationale Form der Durchsetzung von irgendwelchen Beschlüssen irgendwelcher Gremien ist. Sie hat sehr viel mehr emotionale Inhalte und Ausdrucksformen demokratischer Kultur, die man nicht an den Effizienzmaßstäben der Politik festmachen kann. Ich glaube, daß durch diese Form der Erweiterung der Demokratie oder der Arbeitsteilung zwischen Politik und demokratischer Kultur eine Entwicklung einsetzen könnte, die auch einen Umgang mit dem häßlichen, ineffizienten und unkontrollierbaren Bürger eröffnet.

Wie wir mit dem häßlichen Bürger umgehen, ist die eigentliche Schlüsselfrage der Demokratie. Durch Selbstinitiativen, die vielleicht nicht effizient sind, werden Zusammenhänge gestiftet, wird Gesellschaft lebendig und quirlig. Das beginnt bei uns ja erst. In der Geschichte war das relativ wenig der Fall. Daß dabei eine Normalität von Entwicklungen entsteht, die nicht in die Rationalitätsrahmen des Politischen hineinfallen, und wie wir mit diesen umgehen, das ist eine der Schlüsselfragen der Zukunft. Wenn man solche Entwicklungen durch höhere Instanzen, durch Stärkung der Staatsautorität, durch Polizei oder Verwaltung glatt bügeln will, dann klappt das nicht und wird sehr problematisch.

Wenn man vom Schwinden der Arbeit und dem Anstieg der Freizeit ausgeht, der bislang noch nicht mit einer Umverteilung des Reichtums verbunden ist, dann scheint im Augenblick die freie Zeit mit einem steigenden Medienkonsum kompensiert zu werden. Das meint ja auch Informationsgesellschaft. Medienkonsum fördert nicht gerade Aktivität oder gesellschaftliches Engagement. Schon seit frühester Kindheit setzen sich die Menschen täglich über Stunden den Medienwelten aus. Hinterläßt das keine Spuren? Entstehen dadurch nicht auch neue Erwartungen?

Ulrich Beck: Die Medien beruhen teilweise darauf, die Menschen abhängig zu machen. Das Medium wird zur Droge. Ich habe mich einmal mit Computertechnikern und -programmierern unterhalten, die mir sagten, daß sie die Menschen abhängig machen wollen. Das ist ja auch ein wesentlicher Trick der Marktherstellung, dem man sich realistisch stellen muß. Ich weigere mich nur - und das ist das Faszinierende am Konzept der zweiten Moderne -, einzelne dieser Trends einfach zu verallgemeinern. Aus unserer intellektuellen Herkunft springt unsere Phantasie stärker an, wenn man kulturpessimistische Strömungen zeichnet, aber sie ist sehr viel schwächer in der Wahrnehnung einer Vielfalt unterschiedlicher Strömungen. Dafür fehlt uns auch die Begrifflichkeit. Aber eine solche Phantasie wäre notwendig, weil vieles von dem, was sich in dieser Gesellschaft vor sich geht, gerade unterhalb der gewohnten Stereotypen geschieht. Das eben macht es so aufregend, sich ein Stück auf das, was ich vorläufig zweite Moderne nenne, einzulassen und andersartige Konflikte herauszuarbeiten.