Vor dem nächsten Rationalisierungsschub?

Das Bundeswirtschaftsministerium fördert den Einsatz mobiler Internetanwendungen - im Maschinenbau, in der Altenpflege, Forstwirtschaft oder öffentlichen Verwaltung - und damit womöglich einen neuen Taylorismus

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In einem schwäbischen Dorf wohnt eine Seniorin. Angehörige, die sich um sie kümmern könnten, hat sie nicht. Dabei leidet sie unter hohem Blutdruck und einer Diabetis. Wenigstens kommt ein ambulanter Pflegedienst zweimal am Tag vorbei. Der misst den Blutdruck und den Blutzucker und schreibt die Werte auf. Nichts Besonderes – nur tut der Mitarbeiter das mit einem digitalen Stift, der die Daten über Funk zeitgleich in eine Datenbank überträgt. Die Seniorin hat deshalb gleich zwei Patientenakten – eine analoge bei sich zuhause und eine digitale, auf die Pflegedienst, Ärzte und, wenn nötig, ein Krankenhaus zugreifen können.

So jedenfalls stellt es sich das Projekt Vitabit im baden-württembergischen Weinstadt vor. Mit Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums entwickeln dort eine Sozialstation, ein Forschungsinstitut und verschiedene IT –Firmen eine offene und mobil erreichbare Plattform, an das beliebig viele Dienste angeschlossen werden können. Pflegerinnen und Pfleger sollen so mobiler werden und die Qualität ihrer Arbeit verbessert werden.

„Telemedizin“ verbindet mobile Endgeräte, mit denen Ärzte und Pflegedienstmitarbeiter Datenbanken einsehen können, mit Sensortechnik und Funkübertragung. Ein Hausarzt kann beispielsweise bei Herzkreislauferkrankungen mit entsprechend aufbereiteten Informationen gefährliche Entwicklungen an Gewicht und Blutdruckwerten beobachten und eingreifen, bevor es zu einem Infarkt kommt – ohne Hausbesuch, ohne dass sein Patient in die Praxis kommt. Die nötige Messung kann vom Patienten selbst oder von Pflegedienstmitarbeitern durchgeführt werden. Ob Gewicht, Körpertemperatur, Pulsfrequenz oder der Blutdruck, die Telemedizin bietet schwindelerregende Möglichkeiten. Detaillierte Verlaufskurven etwa vom Blutzucker und Körpergewicht könnten die medizinische Versorgung verbessern und gleichzeitig Geld und Zeit einsparen.

Harald Korb, Direktor der Firma Vitaphone und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitstelematik bezifferte bei einer Konferenz in Berlin am letzten Donnerstag das Potential einer telemedizinischen Überwachung von chronisch Kranken auf „60 Prozent weniger Krankenhausaufenthalte und 70 Prozent weniger Notarzteinsätze“.

Vitabit ist eines von zwölf Pilotprojekten, die seit einem Jahr vom Bundeswirtschaftsministerium im Rahmen von Simobit („Sichere Anwendung der mobilen Informationstechnik“) gefördert werden. Alle haben gemeinsam, dass die Beschäftigten mit mobilen Multimedia-Geräten ausgestattet werden. Auf der Konferenz wurden die Anwendungen vorgestellt, die noch in der Entwicklungsphase sind. „Simobit“ ist Teil der sogenannten Hightech-Strategie der Bundesregierung. Durch das Programm sollen „Beispiellösungen“ entstehen, wie das mobile Internet in vorhandene betriebliche Prozesse und Strukturen eingebunden werden kann. Später sollen sie von anderen Unternehmen übernommen werden. Insgesamt geht es laut Veröffentlichungen des Ministeriums um „Produktivitäts- und Qualitätssteigerungen sowie Kosten- und Zeitersparnisse“ in Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung. Dafür gibt es bis zum Jahr 2011 immerhin 28 Millionen Euro an Fördermitteln aus.

Obwohl bei Simobit viel die Rede von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) ist – also von solchen mit weniger als 500 Beschäftigten –, finden sich in den Netzwerken zahlreiche „Mittelständler“ wie T-Systems, Daimler, Siemens, Philips und SAP. Gefördert werden Projekte in so unterschiedlichen Bereichen wie der Forstwirtschaft, der öffentlichen Verwaltung (oder, um es mit einem neuen wunderbaren Anglizismus zu sagen, dem „Mobile Government“), dem Handwerk, der Landwirtschaft und dem Maschinenbau. Viele der geförderten Ansätze setzen auf offene Plattformen. Auf Großbaustellen könnten sich die verschiedenen beteiligten Baufirmen oder Elektrohandwerker vernetzen und die nötigen Informationen zum Ressourcenmanagement austauschen, glaubt etwa Maremba.

Originell ist der Ansatz von SiWear, der auf Beschäftigte in Werkstätten, in der Logistik und im Außendienst abzielt. Weil die tatsächlich noch Handarbeit leisten, kommen Handheld-Computer natürlich nicht in Frage. „Die Lösung sind Computersysteme, die am Körper getragen werden können“, heißt es in einer Broschüre von SiWear. „Mit ihnen bleiben die Hände frei für die eigentlichen Tätigkeiten der Kommissionierung und Wartung.“ Kommuniziert wird mit Textiltastaturen, Datenhandschuhen, in die Brille integrierte Displays oder mit Mikrofonen. Auch mit bestimmten Gesten könnten Computer gesteuert werden:

Direkte Arbeitsanweisungen und die automatische Rücksendung der Ergebnisse (...) ermöglichen eine zeitnahe Berichterstattung. Auf diese Weise ist der Informationsfluss innerhalb des gesamten Arbeitsprozesses direkt in die IT–Umgebung eingebettet und sowohl die Weitergabe von Anweisungen als auch die nachträgliche Eingabe in das System können entfallen.

Ob’s funktioniert? Und falls ja, wie wird das den derart vernetzten Arbeitern und Arbeiterinnen gefallen?

Viele der Anwendungen, die im Rahmen von Simobit gefördert werden, werden dazu führen, dass Arbeitsprozesse gestrafft und im nächsten Schritt Arbeitsplätze abgebaut werden. In der Selbstbeschreibung des internetgestützten Pflegedienstes von Vitabit etwa wird der Aspekt der besseren Kontrolle – als Teil des sogenannten Qualitätsmanagements – offen ausgesprochen:

Der Einsatz des digitalen Stifts soll überdies die genaue Dokumentation der erbrachten Leistungen dokumentieren – Zeiterfassung und Leistungsnachweis erfolgen heute mitunter recht willkürlich und unpräzise.

Durch die Übertragung in Echtzeit kann die Geschäftsleitung nachvollziehen, wann welcher Eintrag erfolgte. Durch die ebenfalls vorgesehene Einbindung von „detailgetreuer Geoinformationen“ kann sie zudem den Standort des Mitarbeiters zu jedem beliebigen Zeitpunkt herausfinden. Gerade diese Möglichkeiten machen das mobile Internet für Unternehmer attraktiv.

Taylorismus der nächsten Stufe?

Im Jahr 1911 veröffentlichte Frederick W. Taylor in den USA sein Buch „Wissenschaftliche Betriebsführung“. Der Ingenieur glaubte, die Organisation der Produktion müsse auf drei Prinzipien beruhen. Das erste Prinzip lautet in seinen eigenen Worten:

Die Betriebsleiter übernehmen es, das ganze althergebrachte Wissen, das früher die Arbeitenden besaßen, zu sammeln und dann zu klassifizieren, zu ordnen und schließlich in Gesetze, in feste Regeln und Formeln zu verwandeln.

Wissen die Betriebsleiter – Taylor schrieb in seiner Heimatsprache eigentlich von „Managern“ – dann genau, wie der Arbeitsprozess vonstatten geht, ist der nächste Schritt, die Planung und alle anderen geistigen Anteile von der Arbeit der Beschäftigten zu trennen. Was sie tun, wird dadurch auf gleichförmige, sich wiederholende Tätigkeiten reduziert; so das zweite Prinzip. Das dritte schließlich besteht darin, dass alle Arbeitsvorgänge künftig vom Management genau festgelegt werden.

Heute hat die Methode, die Taylors Namen trägt – der Taylorismus – keinen guten Leumund mehr. Seine Theorie ist zu grobschlächtig, seine Aussagen zu unverblümt. Die Auseinandersetzung, die er beschrieb, ist heute aber ebenso aktuell wie Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Taylor hatte eine Vision, die niemals Wirklichkeit wurde: in ihr weiß und kontrolliert die Betriebsleitung alles. Das war und ist nicht der Fall. Aber sicher hat die digitale Informationstechnik Taylors Vision näher gebracht.

Nicht nur der Fluss der Waren erhält ein immer genaueres und detailreicheres Abbild, auch was die Beschäftigten tun, lässt sich immer lückenloser nachvollziehen. Teilweise findet die Dokumentation ihrer Tätigkeiten automatisch statt – durch Satellitennavigation (GPS/Galileo/Glanoss), Radiofrequenzidentifikation (RFID) und Sensortechnik. Im sogenannten „Internet der Dinge“ vernetzen sich Maschinen und Waren automatisch und tauschen Daten aus. Aber „die Wertschöpfungskette abbilden“ – wie es in der Managementliteratur oft heißt - bedeutet gleichzeitig, den Arbeitsprozess abzubilden. Das „mobile Internet“ macht so einen neuen Super-Taylorismus möglich.

Bereits heute hat das Internet die Arbeitssphäre weitgehend durchdrungen. Es hat ermöglicht, Abläufe straffen, Anweisungen zu übermitteln und Leistungen zu dokumentieren und zu übermitteln. Laut dem Statistischen Bundesamt nutzen in Deutschland 60 Prozent der Beschäftigten während ihrer Arbeitszeit einen Computer. 53 Prozent waren dabei mit dem Internet verbunden. 2003 lag ihr Anteil bei 31 Prozent. Ein Fünftel der Unternehmen, die Computer nutzen, haben auch ein organisationsinternes Netzwerk. Über das Netz verteilen sie Standardformulare und Arbeitsanweisungen und koordinieren beispielsweise die Dienstpläne.

Durch mobile Empfangsgeräte könnte die mediale Durchdringung nun eine ganz neue Qualität erreichen. Ob es aber so kommt, ist offen. Eine Technologie kann theoretisch unbegrenzt viele wunderbare Möglichkeiten bieten. Durchsetzen wird sie sich nur, wenn bestimmte ökonomische und soziale Vorraussetzungen erfüllt sind. Zum Beispiel lohnt sich die Investitionen in neue, avancierte und teure Rationalisierungstechnik für Unternehmen nur dann, wenn überhaupt ein entsprechender Lohndruck besteht. Warum auf Einsparungen durch eine Technik setzen, wenn auch durch sinkende Löhne gespart werden kann? Erklärt das möglicherweise den Rückstand Deutschlands im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bei der Einführung?

Ob RFID Sensorik, Geodaten oder mobiles Internet – fast alle Technologien, die in den vergangenen Jahren als die kommenden Wachstumstreiber galten, waren Automatisierungs- und Rationalisierungstechnologien. Allesamt haben sie bisher die (oft maßlos übersteigerten) Erwartungen enttäuscht. Im Fall von RFID und Anwendungen für mobile Endgeräten liegt das auch daran, dass der Markt weiterhin fragmentiert ist und bleibt. Unterschiedliche Systeme konkurrieren miteinander. Weil es bisher keine einheitlichen Standards gibt, ist für Unternehmen die Investition riskant: Wenn der nächste in der Wertschöpfungskette mit einen anderen System arbeitet, war sie sinnlos oder bliebe zumindest auf den Einsatz im eigenen Unternehmen beschränkt. Dort lässt sich aber nicht wirklich viel einsparen.

Die Wirtschaftskrise könnte nun allerdings den Druck erhöhen, wirklich alle Möglichkeiten zur Optimierung und Rationalisierung auszuschöpfen. Und eine „Marktbereinigung“ – durch den Bankrott konkurrierender Anbieter – nebenbei dazu führen, dass sich endlich ein allgemein gültiger Standard durchsetzt. Was durch das „mobile Internet“ auf die Beschäftigten zukommt, ist jedenfalls offen.