Vor einer "klaren Niederlage" der Russen
US-Meisterdenker: Der Zusammenbruch könnte plötzlich kommen, Diplomatie hat keine Chance
...daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.
Hegel, Phänomenologie des Geistes
Eine Niederlage der russischen Truppen werde immer wahrscheinlicher, und am Ende dieser Entwicklung werde Putin fallen – ist das Wunschdenken oder historische Klugheit? In jedem Fall, ist dies die Essenz aus einigen bemerkenswerten und (im Sinne der US-Position) bemerkenswert optimistischen Wortmeldungen des den amerikanischen Politologen Francis Fukuyama, eines der US-amerikanischen Meisterdenker der letzten Jahrzehnte.
Die Geschichte ist nicht zu Ende. Dies ist für Fukuyama, der Anfang der 1990er Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit seiner These vom "Ende der Geschichte" weltberühmt wurde, längst offensichtlich, und er hat seine damalige Annahme vom Sieg der liberalen Weltordnung längst revidiert.
"Ich riskiere hier etwas und wage ein paar Prognosen"
Vielleicht müsste Fukuyama, einer der bekanntesten Rechtshegelianer der internationalen Politikwissenschaft, heute eher davon sprechen, dass die Geschichte 1989/90 in eine neue Phase getreten ist, eine neue Epoche. Was ist es aber nun, weltgeschichtlich betrachtet, was ziemlich genau 30 Jahre später, Ende Februar mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine geschah?
Natürlich ist genau genommen zu früh für solche Überlegungen. "Die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug", lautete schon eine der berühmtesten Formulierungen Hegels. Doch ist es Aufgabe der Wissenschaft, auch während eines Prozesses, der noch im Gange ist, und nicht erst retrospektiv Deutungsvorschläge zu entwickeln. Und dieser Aufgabe stellt sich auch Fukuyama in einigen ersten Wortmeldungen nach dem 24. Februar 2022.
Man muss Fukuyama daher dankbar sein, dass er einmal mehr risikobereit und kreativ wagt, sich zu einem fluiden Prozess zu äußern. Ganz offen leitet er seinen Text mit der Formulierung "Ich riskiere hier etwas und wage ein paar Prognosen" ein. In zwölf Thesen, die er auf Deutsch am Wochenende in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichte (im englischen Original sind sie im Spectator erschienen und auf Fukuyamas Website frei zugänglich), kommentiert er das Geschehen in der Ukraine.
Ohne Reserven, ohne Munition, ohne Versorgung
1. Russland steuert auf eine klare Niederlage in der Ukraine zu. Die russische Planung war inkompetent und basierte auf der fehlerhaften Annahme, dass die Ukrainer Russland wohlgesinnt sind und dass ihr Militär nach dem Einmarsch sofort zusammenbrechen würde. Die russischen Soldaten trugen für ihre Siegesparade in Kiew offenbar Ausgehuniformen mit, und nicht etwa zusätzliche Munition und Rationen.
Putin hat zum jetzigen Zeitpunkt den Großteil seiner Streitkräfte für diesen Feldzug eingesetzt – es gibt keine großen Reserven, auf die er zurückgreifen und die er in die Schlacht werfen könnte. Die russischen Truppen sitzen außerhalb ukrainischer Städte fest, wo sie mit enormen Versorgungsproblemen und ständigen ukrainischen Angriffen konfrontiert sind.
Francis Fukuyama
Wenn man Fukuyama etwas vorwerfen möchte kann, dann ist es, dass er größere Begründungen für seine Thesen schuldig bleibt. Gerade diese substanziell besonders wichtige "These 1" hätte einige solcher Begründungen gut brauchen können.
Etwa dafür, dass den russischen Soldaten zusätzliche Munition und Rationen fehlen. Sowie für die Behauptung, dass bereits jetzt der Großteil der Streitkräfte im Einsatz sei, und es keine großen Reserven gebe. Gegen die Analyse, dass die Vermeidung des Städtekampfs ein Nachteil für die russische Armee sei, ließe sich wohl argumentieren, dass dies gerade potentielle Verluste schmälert, und dass Truppen im Feindesland außerhalb der Städte wohl besser zu versorgen sind.
"Besser, wenn die Ukrainer die Russen aus eigener Kraft besiegen"
2. Der Zusammenbruch ihrer Stellungen könnte plötzlich kommen und katastrophal sein. Es braucht dazu keinen langsamen Zermürbungskrieg. Im Feld wird die Armee an einen Punkt gelangen, an dem sie weder versorgt noch zurückgezogen werden kann, und die Kampfmoral wird verfliegen. Dies gilt zumindest für den Norden der Ukraine; im Süden stehen die Russen besser da, aber diese Stellungen wären schwer zu halten, wenn die nördliche Front zusammenbricht.
Francis Fukuyama
"Könnte" und "wäre" - dies alles basiert auf viel Spekulation, auch hier bleibt der Autor gute Begründungen schuldig.
Viel substantieller sind demgegenüber die in den Thesen 3-6 geäußerten Überlegungen zu diplomatischen Fragen.
"Eine Beendigung des Krieges durch Diplomatie ist unmöglich", weil ein Kompromiss angesichts der Verluste nicht denkbar sei. Einmal mehr hätten sich internationale Organisationen als nutzlos erwiesen, und während UNO und Co ein zahnloser Tiger bleibe, liege es wieder an den Nationalstaaten zu handeln. Eine Ausnahme könnte hier allenfalls die EU darstellen, über die Fukuyama nicht schreibt.
Fukuyama, Mitglied der Republikaner, lobt die Biden-Administration für ihre Zurückhaltung und "einen kühlen Kopf", besonders in der Frage der Flugverbotszone, und dafür, den Polen in ihrem Alleingang zur Lieferung von Kampfflugzeugen in den Arm zu fallen: Es sei "viel besser, wenn die Ukrainer die Russen aus eigener Kraft besiegen, wodurch Moskau die Ausrede abhandenkommt, die Nato habe sie angegriffen".
Hier dürfte es allerdings der russischen Führung nicht schwerfallen, im Fall des Falles, die massive Aufrüstung der Ukraine, und das Training der ukrainischen Armee durch britische und amerikanische Militärberater sowie den jetzigen kontinuierlichen Nachschub an Waffen und Ausrüstung aufs Konto der Nato zu schreiben.
"Putin wird die Niederlage seiner Armee nicht überleben"
Die Thesen 7 und 8 zielen auf Putin und einige seiner Freunde: "Putin wird die Niederlage seiner Armee nicht überleben." Tatsächlich wäre das Image Putins als starker Mann im Fall einer Niederlage angeschlagen. Andererseits wäre ein Machtwechsel nur als gewalttätiger denkbar. Putin hat es verstanden, alle entscheidenden Gegner auszuschalten, oft genug wurden sie ermordet oder aus dem Land vertrieben. Keiner wäre heute in der Lage, ihn herauszufordern. Und woher wissen wir, dass ein Nachfolger für den Westen die bessere Variante wäre?
Tatsächlich hat die Ukraine-Invasion die Rechtspopulisten in aller Welt vorerst zum Schweigen gebracht. Aber das Gedächtnis ihrer Anhänger ist nicht sehr dauerhaft.
Insofern gibt es Gründe, an Francis Fukuyamas Optimismus zu zweifeln, der darauf hofft, dass eine russische Niederlage eine Wiedergeburt der Freiheit ermöglichen und den Glauben an den welthistorischen Sieg der globalen Demokratie wiederbeleben wird.
Schon Fukuyamas Idol Hegel wusste, dass jedes Seiende sein eigenes Gegenteil produziert und die Geschichte tatsächlich nie zu Ende geht.