Wachstum ohne Ende?

Jobwunder Internet & New Economy

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"Unangenehm viele Leute hier - da werde ich wohl einige rausprüfen müssen!", lautete die Begrüßung zu Beginn unsere Studienzeit 1994 in München. Wir waren damals einer der ersten Jahrgänge bei dem der Numerus Clausus (NC) für Informatik aufgehoben wurde. Damals herrschte aufgrund unklarer Jobaussichten eine gewisse Abneigung gegenüber technischen Studiengängen im allgemeinen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, als es kurz nach der Wende von führenden deutschen Industriemanagern hieß: "Wenn die deutschen Hochschulabsolventen weiterhin so teuer sind, holen wir uns den wissenschaftlichen Nachwuchs aus den ehemaligen Ostblockländern." Also so etwas wie eine frühe Greencard aus Preisdrückungsgründen.

Waren wir 1994 in München noch ca. 200 Erstsemester im Fachgebiet Informatik, so haben sich die Zahlen mittlerweile auf 1200 erhöht. Die Zeiten haben sich geändert, die deutsche Industrie erkannte, dass sie mit Fachkräften aus dem Ausland ihre Ziele nicht erreichen kann. Insbesondere die sprachliche Barriere macht auch der Greencard zu schaffen. Heutzutage kämpft die Industrie mit einem Mangel an IT-Fachkräften. Die Schuldigen hierfür waren natürlich schnell gefunden: die deutsche Politik und die Hochschulen, haben sie doch über Jahre hinweg den technisch akademischen Nachwuchs vernachlässigt bzw. das Studienangebot fachlich uninteressant gemacht und nicht an den Wünschen der Wirtschaft ausgerichtet.

Als gemeinsamen Konsens der gegenseitigen Schuldzuweisungen der drei Parteien (Industrie, Politik, und Hochschulen) lässt sich ziemlich eindeutig ablesen: "Wir brauchen mehr Nachwuchs im IT-Umfeld." Wohlgemerkt: es vermag niemand genau zu sagen, wie viele Arbeitskräfte denn überhaupt benötigt werden. Dank der neuen Medien, der Aufhebung des Arbeitsamtmonopols und der vielen Personalvermittlungsagenturen dürfte es derzeit kaum eine Stellenausschreibung geben, die nur in einem Medium beworben wird.

Die eigentlich interessante Frage dabei ist, woher der Nachwuchs kommen soll? Über welche Kanälen kann man ihn heranbilden? Ein Grund für den Mangel an Informatikern war und ist sicher deren Einsatz an Arbeitsplätzen, für die ein Studium gar nicht nötig wäre. Aber mangels Alternativen zum diplomierten Informatiker, Physiker oder Mathematiker gab es in der Vergangenheit nicht viele Wahlmöglichkeiten. Man denke nur an die Vielzahl von Admin- und Programmierjobs, für die eine konventionelle Ausbildung oder Umschulung vollkommen ausreichen würde. Eine wirklich sinnvolle Errungenschaft war die Etablierung diverser Ausbildungsberufe zum Fachinformatiker, auch wenn das viel zu spät kam. Damit wurde es in Deutschland erstmals möglich, eine technisch orientierte Ausbildung mit Schwerpunkt IT abzuschließen. Gleichzeitig bieten immer mehr Schulen Ausbildungen und Zertifizierungen zu diversen Produktspezialisten und Programmierern (MCP, NCP, MCSD etc.) an. Tausende von mehr oder minder motivierten Umschülern belagern diese vom Arbeitsamt hochsubventionierten Schulen.

Auch die Hochschulen haben einen unerwartet hohen Ansturm an Informatikstudenten zu verzeichnen. Dieses Jahr haben sich bundesweit ca. 26.000 für einen Studiengang der Informatik eingeschrieben. Doch was ist mit der Qualität der Lehre bei teilweise bis zu 1000 Erstsemestern pro Hochschule? Die Lehrstühle selbst haben schwer damit zu kämpfen, qualifizierten, diplomierten Nachwuchs für Forschung und Lehre zu bekommen. Wer will schon bei den glänzenden Gehältern in der freien Wirtschaft eine BAT 2a bzw. BAT 2b Stelle? Es dürfte angesichts der Greencard-Diskussion auch nur schwer vermittelbar sein, warum man ausländische Fachkräfte ins Land holen, aber der eigenen Jugend den Zugang zu den Hochschulen verwehren sollte. Daher wagte es bislang kaum eine Hochschule einen NC für Informatik einzuführen. Mittlerweile werden aber an den Hochschulen Stimmen lauter, konsequent einen NC einzuführen, bis der Staat die Vorraussetzungen schafft, um dem Studentenansturm gerecht zu werden.

Die deutsche Politik und Industrie können also stolz sein, denn von allen Seiten strömen arbeitshungrige hochmotivierte "Young Professionals" herbei, die ihren Teil vom scheinbar unbegrenzt nahrhaften IT-Kuchen abhaben wollen.

Kritiker des Jobbooms trauten sich lange nicht die euphorische Stimmung zu dämpfen. Waren ihre Unkenrufe, dass nach der Jahr-2000-Umstellung und der Euro-Einführung der Arbeitskräftemangel nachlassen würde, doch etwas verfrüht. Man darf jedoch nicht verkennen, dass ein nicht zu unterschätzender Jobmotor derzeit die vielen kleinen Unternehmensgründungen (Startups) darstellen. Mittlerweile tummeln sich Hunderte kleiner 2-20 Mann Betriebe auf dem deutschen Markt, die sich vor Investorengeldern kaum noch retten konnten - wäre da nicht die Talfahrt der Internetaktien. Vielen Anlegern und Investoren ist mittlerweile bewusst, daas eine Idee alleine nicht reicht, sondern man auch den Markt dafür benötigt . So wurde das diesjährige Weihnachtsgeschäft für viele Unternehmen aus dem E-Commerce-Umfeld als letzte Feuer-/Nagel-/Bewährungsprobe gesehen. Mit dem Neujahrskater wird auch der Kater in vielen Firmen der New-Economy einkehren. (Siehe dazu auch ein interessanter Artikel im Spiegel 51/2000 Seite 86 "Sehnsucht nach dem Festgehalt")

Ein herausragendes Beispiel für verfehlten Hype war das GSM-basierte WAP. Kaum geisterte das Zauberwort "WAP" in den Medien herum, waren schon die entsprechenden Startups zur Stelle, um den neuen Zukunftsmarkt zu erschließen. Leider merkten die Konsumenten ziemlich schnell, dass sie WAP (in seiner heutigen Form) eigentlich gar nicht brauchen. Die Zusammenbrüche und Aufkäufe einzelner WAP-Anbieter ließen nicht lange auf sich warten. Auch wer die UMTS-Diskussion verfolgt hat, wird feststellen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt.

Man sollte aufpassen mit allzu euphorischen Prognosen für den Arbeitsmarkt der IT-Spezialisten. Ein nachhaltiges Wachstum auf einem Arbeitsmarkt für Akademiker gab es in Deutschland noch nie (z.B. Schweinezyklen bei Ärzten und Lehrern etc., auch die Informatiker selbst haben ähnliches schon durchgemacht - Stichwort: Softwarekrise). Die Frage ist nur, mit welcher Stärke der Abschwung kommt, und damit wie folgenschwer die Auswirkungen für den einzelnen Stellensuchenden/Betroffenen sind.

In den USA werden die Stimmen, welche vor einer wirtschaftlichen Trendwende warnen, immer lauter. Selbstredend werden in Zukunft auch noch qualifizierte Informatiker und IT-Spezialisten gesucht werden. Aber in welchem Umfang muss sich erst noch herausstellen. Viele Firmen fangen erst jetzt an zu überlegen, ob sie für die eine oder andere Routinetätigkeit wirklich einen Dipl. Inf. brauchen oder ob nicht der Fachinformatiker oder der Umschüler auch reicht. Da erscheint es äußerst fraglich, ob sich die nächste Erstsemestergeneration statt beim IT-Systemhaus die Klinke beim Arbeitsamt in die Hand gibt. Das eigentlich Unverantwortliche an diesem Hype ist, dass er von Wirtschaft und Politik noch verstärkt wird, statt etwas realistischer mit dem "Jobwunder Internet" umzugehen.