Wahlen im Herbst: AfD und die ostdeutsche Perspektive
"AfD ist die Rache des Ostens": Theatermacher Frank Castorf befeuert Debatte über West-Dominanz in Ostdeutschland. Warum er ein System DDR plus fürchtet.
Der renommierte Theaterregisseur Frank Castorf wirft kritische Blicke auf die Institutionen der Demokratie. In einem Interview mit der Berliner Zeitung sieht er in der AfD "die Rache des Ostens".
Castorf, der in der DDR aufgewachsen ist und dort Theaterwissenschaft studiert hat, bezieht sich bei seiner Äußerung auf die Übernahme von Führungspositionen in ostdeutschen Institutionen durch Westdeutsche nach der Wiedervereinigung.
Sehnsucht nach Veränderung
Auf die Frage, ob es die Sehnsucht nach Veränderung sei, die AfD-Wähler antreibe, antwortete er.
Ich denke, sie sind angetrieben von einem ganz einfachen Gedanken. Die AfD ist die Rache des Ostens. Es ist ja auch ein Skandal: Wer leitet die Redaktionen, Theater, Museen, Hochschulen, wer sitzt den Gerichten vor?
Christoph Hein hat zutreffend beschrieben, wie die Westprofessoren, die zu Hause keine Posten abbekommen haben, aus der zweiten Reihe in die offene Wunde Ostdeutschlands stießen. Wie die sich unterbringen und in aller Selbstverständlichkeit bereichern wie die ehemalige RBB-Intendantin.
Ja, und die Rache löst den pawlowschen Reflex auf der anderen Seite aus. Jetzt will der Westen die Mauer wieder hochziehen. Schnell die AfD-Wähler ausgrenzen und von den Institutionen fernhalten – aber wie soll das gehen, ohne die Wahlkabinen mit Überwachungskameras auszustatten? Und dann sind wir in der DDR plus.
Frank Castorf, Berliner Zeitung
Der Schriftsteller Christoph Hein, auf den sich Castorf bezieht, hatte in einem Interview mit Deutschlandfunkkultur im Dezember 2023 die Ansicht geäußert, dass 1990 eine "Auswechslung der Eliten" stattfand (etwa ab Minute 03:59). Seither seien die Führungsschichten in Ostdeutschland "immer noch zu 90 Prozent von Westdeutschen besetzt".
Auswechslung durch zweite Garde: "Mit vollkommener Empathielosigkeit"
Die Äußerung bekam scharfes Medienecho, da Hein in dem Zusammenhang eine historische Parallele zu 1935 zog, als die Universitäten von Juden, Sozialisten und Kommunisten "gereinigt" wurden. Die Professoren, der ersten Reihe verschwanden dann und es sei nur die zweite und dritte Garde geblieben, erklärt Hein.
Diese Auswechslung habe sich 1990 in Ostdeutschland wiederholt, als eine andere Garde an Führungspositionen kam, erneut "mit vollkommener Empathielosigkeit", so die These des Schriftstellers.
Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann, auf dessen Positionen, dargelegt etwa im Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung", sich Hein bezog, widersprach zwar nicht dem Befund – "An der Philosophischen Fakultät der Universität Jena sind bis Mitte der Neunzigerjahre fast alle Professuren mit Wissenschaftlern aus dem Westen neu besetzt worden" – aber deutlich dem "irritierenden" (Oschman) Vergleich mit 1935. Er erklärte gegenüber der Berliner Zeitung:
Nach 89/90 war der Elitenwechsel in vielen Hinsichten unumgänglich (Verwaltung, Justiz etc.), notwendig und hilfreich – und doch wiederum auch radikaler und schärfer als notwendig und der Sache dienlich. Da ist auch viel neues Unrecht produziert worden.
Dirk Oschmann
"Die reichsten Ostdeutschen sind Westdeutsche"
Zuletzt hatte der Soziologe Steffen Mau, Autor von "Ungleich vereint", der sich intensiv mit der Übernahme von Führungspositionen in Ostdeutschland durch Westdeutsche seit der Wiedervereinigung 1990 beschäftigt, die Debatte neu belebt. Seine Thesen gehen von einer anhaltenden Unterrepräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen und damit verbundenen sozialen und politischen Implikationen aus.
"Die reichsten Ostdeutschen sind Westdeutsche", sagte Mau in einer Diskussionsveranstaltung der taz, in der er sich auf Geschichten aus seiner Heimat Rostock beruft.
Mau stellt fest, dass Ostdeutsche in Führungspositionen sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik stark unterrepräsentiert sind. Diese Diskrepanz sieht er als Ausdruck struktureller Ungleichheiten zwischen Ost und West, die auch mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung bestehen bleibe.
Unterrepräsentation von Ostdeutschen in Führungsrollen
Mau betont, dass die Wahrnehmung von Ostdeutschland oft durch westdeutsche Perspektiven geprägt ist. Diese Perspektive trage dazu bei, dass Ostdeutsche sich selbst als "anders" wahrnehmen und oft das Gefühl haben, nicht vollständig in der gesamtdeutschen Gesellschaft angekommen zu sein
Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in Führungsrollen habe laut Mau nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Konsequenzen. Sie trägt zu einer stärkeren Unterstützung für populistische und extrem rechte Parteien in Ostdeutschland bei, da diese Parteien oft als Stimme der "authentischen" Ostdeutschen wahrgenommen werden.
Mau argumentiert, dass die kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen Ost und West weiterhin bestehen und sich in verschiedenen Bereichen wie Bildung, Beruf und politischer Kultur manifestieren. Diese Unterschiede werden durch die ungleiche Repräsentation in Führungspositionen verstärkt.
Die Übernahme von Führungspositionen durch Westdeutsche in Ostdeutschland sieht Mau demnach als Phänomen, das tief in den sozialen und politischen Strukturen der wiedervereinigten Bundesrepublik verwurzelt ist. Mau fordert eine stärkere Anerkennung und Integration ostdeutscher Perspektiven, um die bestehenden Ungleichheiten zu überwinden.
Kleinbürgerliche moralische Überlegenheit
Der Theatermacher Castorf äußerte in dem oben genannten Interview auch Kritik an der aktuellen Gesellschaft und Politik. So bezeichnet er die moralische Überlegenheit vieler Demonstranten gegen rechts als "selbstgewiss" und "kleinbürgerlich". Er warnt:
Man muss sich nur erinnern, was andere schon über das Goldene Kalb der Demokratie gesagt haben. Leute aus der Deutschen Demokratischen Republik wissen, wie ambivalent der Begriff ist. Wir wissen, wie zerbrechlich auch die unerschütterlich erscheinenden Institutionen und sozialen Strukturen sein können und wie schnell sich dann die heimatlosen Menschen verwandeln.
Frank Castorf, Berliner Zeitung
Auf die Frage, ob er sich das starke Abschneiden der AfD freue, antwortet Castorf:
Man schämt sich ein bisschen, dass so gewählt wird, aber man kann es ihnen doch nicht verbieten. Der Zustand gefällt mir nicht, aber ich kann nichts dazu sagen, weil ich keine richtige Lösung sehe. Ich habe etwas Hoffnung, wenn ich nach Frankreich und die Front Populaire blicke, dass linke Kräfte wieder erstarken können.
Aber auch in Frankreich wird sich wohl nur einer stabilisieren und der heißt Macron.
Frank Castorf, Berliner Zeitung
Der Kabarettist und Satiriker Harald Schmidt hatte kürzlich erklärt, dass er den Erfolgen von AfD und BSW in Ostdeutschland gelassen entgegensehe.
Die Sorge, dass die Demokratie durch starke Ergebnisse von AfD oder BSW in Gefahr sei, teile er nicht. "Solange gewählt wird, haben wir eine Demokratie", erklärte Schmidt im Deutschlandfunk Kultur in einem Gespräch, das von vielem Lachen begleitet war.
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