Wahlkampf in Ruinen

"infamous" macht den Playstation-Spieler zum Politik-Superhelden und zeigt, dass eine friedliche Stadt schrecklich langweilig ist.

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So sieht der Bürgermeister der Zukunft aus: Jemand ganz wie Giuliani inmitten der Aufräumarbeiten von 9/11, oder wie Gerhard Schröder während der deutschen Flutkatastrophe; einer, der sich ganz hemdsärmelig gibt und medienwirksam zupackt, wenn Not am Mann ist; einer, der sich nicht auf Polizei und Helfer verlassen muss, sondern ganz allein schon eine Macht ist. Cole McGrath, der Protagonist des Playstation-exklusiven "infamous" ist so ein Typ, noch ganz am Anfang seiner politischen Karriere. Und ganz wie ein richtiger Politiker muss er eine Entscheidung treffen: Will er als Held oder als berüchtigter Verbrecher in die Geschichte der in Schutt und Asche liegenden "Empire City" eingehen?

Darin unterscheidet sich "infamous" vom spielerisch teilweise ähnlichen GTA: Anstatt nur die Rolle des Gangsters zu beschreiten, darf man in "infamous" trotz des Gegenteiliges suggerierenden Titels auch eine ganze Stadt retten. Gangster wäre aber als Beschreibung für den bösen Weg wohl auch etwas tief gestapelt - die Zerstörungsorgien, die man entfacht, sind die eines veritablen Superbösewichts.

Man merkt es gleich: "infamous" ist dem Comic-Medium verpflichtet, während GTA - durchaus mit ironischer Distanz - lieber grimmige Gangster-Geschichten erzählt. Hier jedoch schlüpft der Spieler in die Rolle des Paketkuriers Cole McGrath, dessen letzter Auftrag in seinen Händen explodiert ist - oder etwas ähnliches, eine Art elektrische Explosion - und weite Teile von Empire City in Schutt und Asche gelegt hat. Gleichzeitig bricht eine mysteriöse Seuche aus, weshalb die Regierung natürlich in ihre Standard-Reaktion auf apokalyptische Bedrohungen verfällt und die Stadt unter Quarantäne stellt. Die Bewohner sind damit ihrem Schicksal überlassen, während sich die örtlichen Gangs eine solche Gelegenheit zu ungehemmter Anarchie natürlich nicht entgehen lassen. Genau der richtige Zeitpunkt für einen Helden von echtem Schrot und Korn, der ordentlich aufräumt und sich so in Empire City regelrecht zum Polit-Promi hocharbeitet. Cole ist genau so ein Typ: Die Explosion kostete ihn zwar erstmal seine Freundin, brachte ihm dafür aber recht beachtliche Superkräfte.

So hüpft und klettert - Cole ist, wie das Handbuch nebenbei verrät, als Freizeit-Freerunner äußerst behende - man durch die verwahrloste Stadt, während man munter Blitze aus den Handflächen schießt. Gleichzeitig überlebt Cole jeden Sturz aus noch so großer Höhe, surft auf Stromleitungen und Eisenbahnschienen und gleitet später sogar elegant durch die Lüfte. Für die zahlreichen Gegner hält der Superheld/Superbösewicht ein Arsenal an elektrischen Gimmicks bereit: So lassen sich die Blitze in einem Präzisions-Modus ähnlich einem Scharfschützen verschießen, Druckwellen schleudern Feinde wie zuletzt bei "Star Wars" durch die Lüfte, sogar elektrische Granaten und fernsteuerbare Raketen gehören zu Coles Repertoire. Und die unzähligen verletzten Passanten auf der Straße verarztet man - hat man sich für die gute Seite entschieden - als wandelnder Defibrillator, oder man entzieht ihnen als Super-Villain den letzten Rest "bioelektrische Energie", der noch in ihnen steckt.

Energieverschwendung und Imageplanung

Coles Ressourcen sind schließlich keineswegs unerschöpflich. Wie ein lebender Akku ist er auf ständig frischen Saft angewiesen, zapft neben eben erwähnten Passanten Autobatterien, Verteilerkästen, Klimaanlagen und Straßenlaternen an. Und wo sich Cole bedient hat, da gehen in der Folge erstmal für kurze Zeit die Lichter aus. Dabei ist sein Verhältnis zur Bevölkerung von Beginn an ein Zwiespältiges: Zuerst rennen die Passanten ängstlich in Deckung, wenn Cole von einem Hochhausdach in ihre Mitte springt, manche beschimpfen ihn sogar. Es braucht eine Menge Arbeit und Wahlkampf, bis sich das Image gebessert hat. Dann jubeln die Menschen dem Spieler zu, bitten ihn, für Fotos zu posieren, und bieten sogar an, die Stadt mit Plakaten von ihm zu schmücken. Wie diese aber aussehen ist ein weiterer so genannter Karma-Moment: Entscheidet man sich für die gute Seite der Macht, so ziert das Plakat ein stolzer Recke, der das markige Kinn kämpferisch hervorstreckt. Das böse Plakat dagegen erinnert an den finster dreinblickenden Kratos, mit einem dezenten Totenkopf geschmückt.

"infamous" ist ein Spiel der Entscheidungen - Entscheidungen nicht nur über die Moral der Geschichte, sondern auch über den Spielverlauf selbst. Man findet sich in einer Stadt wieder, es gibt (wenigstens im Idealfall des Genres) keine Linearität, alles ist möglich. Diese Ziellosigkeit gehört eigentlich zum Konzept eines Open World-Spiels. Es gibt keine - oder nur wenige - Grenzen für die Bewegungsfreiheit der Spielfigur und an jeder Ecke gibt es kleinere oder größere Aufgaben zu erledigen, die mal mehr und mal weniger nützliche Belohnungen einbringen. Irgendwo im Hinterkopf hat man noch die hauptsächliche Geschichte, der man folgen kann oder eben auch nicht. Und trotz all der umgebenden Beliebigkeit taucht man als Spieler in die Welt ein, folgt dem Spiel und seiner Intention und macht doch nur, worauf man Lust hat.

"infamous" wäre gern ein solches Spiel, oder behauptet das zumindest, wenn es sich als Open World-Spiel bezeichnet. Dabei sind es gerade die Aspekte dieses Genres, worin "infamous" als einziges scheitert. Hier entpuppt sich alles nach und nach als Illusion, oder als ein Placebo, um dem Spieler eine Freiheit zu präsentieren, mit der er eigentlich nicht sonderlich viel anfangen kann. So ist Empire City in drei Inseln unterteilt, die nach und nach durch das Absolvieren der Story-Missionen freigespielt werden müssen, ehe Cole sie betreten kann. Und diese Inseln wiederum bestehen aus Bezirken, in denen Cole nach und nach die Stromversorgung wieder herstellen muss - in Story-Missionen, natürlich. Davor sind sie zwar nicht verschlossen, wimmeln aber vor Feinden, denen der Protagonist ohne Stromreserven beinahe wehrlos ausgesetzt ist.

Dazu kommt, dass sich die - immerhin: zahlreichen - Nebenmissionen bereits vor dem Erreichen der zweiten Insel wiederholen. "Folge ungesehen dem Kurier der örtlichen Gang und stiehl sein Paket", "bring diese vier Gefangenen ins Gefängnis" oder "zerstöre alle 14 Überwachungskameras, die die Gang an meinem Haus montiert hat" - das sind nur drei der immer wiederkehrenden Missionstypen, und vor allem der letzte wird in seinem stupiden und Herausforderungsfreien Absuchen einer Hauswand zur rechten Qual. Immerhin kann man mit dem Absolvieren dieser Nebenmissionen die Gangs endgültig aus dem entsprechenden Bezirk vertreiben, was das ziellose Rumhängen darin erst gemütlich macht. Doch auch dafür bietet "infamous" zu wenig Reize: Lockte "GTA" den weniger ehrgeizigen Spieler noch mit allerlei anarchischen oder auch nur kontemplativen Freizeitbeschäftigungen vom Bordellbesuch bis hin zum Billard, so hat "infamous" nichts dergleichen. Ein einmal gesäubertes Gebiet ist - abgesehen von ein paar versprengten und völlig harmlosen Gang-Überbleibseln - sicher, und damit schlussendlich auch langweilig.

So hätte Sucker Punchs Exklusivtitel als lineare Erzählung vermutlich deutlich besser funktioniert: Die Nebenmissionen sind nicht so richtig optional, die zu gewinnenden Erfahrungspunkte wenigstens einiger davon sind spätestens auf mittlerem Schwierigkeitsgrad unverzichtbar. Dafür bietet "infamous" in seinen Story-Missionen umso mehr. Ein wahres Fest der Zerstörung entfacht Cole, wenn er auf einem unter Strom stehenden Bus-Dach durch die Stadt fährt und die Hundertschaften anstürmender Feinde mit Druckwellen, Schock-Granaten und allerlei explodierenden Autos abwehrt. Auch die Bosskämpfe mit anderen Super-Mutanten zum Ende jedes der drei Abschnitte gehören zu den Besten, die es bisher auf der Playstation 3 zu bestreiten gibt. Am Ende des Tages bleibt für unseren Helden aber nichts mehr zu tun, außer auf ein Hochhaus zu klettern und von dort über seine Stadt zu wachen. In Empire City wird jedoch nichts Aufregendes mehr passieren.