Wahnsinn mit Methode

Libyen: Gaddafi beschwört den Bürgerkrieg. Internationale Gemeinschaft droht mit Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof

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Libyer, die gestern in Tripolis demonstrierten, wurden laut Zeugenberichten niedergeschossen. In mindestens drei Stadtviertel haben demnach Soldaten im Dienste von Staatschef Gaddafi aus automatischen Waffen in demonstrierende Mengen gefeuert; die Straßen sollen mit Leichen übersät sein. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon geht davon aus, dass bis zu 1000 Gaddafigegner getötet worden sind. Offizielle libysche Quellen dementierten diese Zahlen.

Gaddafi heizte gestern auf der Mauer eines ehemaligen Kreuzritterforts stehend seine Anhänger, die am Grünen Platz in Tripolis demonstrierten, weiter an: „Schlagt zurück“, wird er vom Guardian zitiert. Und: „Tanzt, singt und bereitet euch vor. Bereitet euch darauf vor, Libyen zu verteidigen, das Öl, die Würde und die Unabhängigkeit.“ Bei al-Jazeera English wird dies so wiedergegeben:

You are the fruit of the revolution. You are the enthusiastic youth of the revolution. You see pride and dignity in the revolution. You see history and glory in revolution - it is the jihad of the heroes. [...]
I am among the public; we will continue to fight, we will defeat them. We will die here on the dear soil of Libya. We will defeat any foreign attempts - as we defeated the former Italian imperialism.[...]
Life without dignity is worthless - life without green banners hoisted is useless.
Dance, sing, stay up all night - live a life of dignity, with high morals.
Muammar al-Gaddafi is one of you. Dance and sing, [be] joy[ful] and rejoice.

In seiner vom libyschen Fernsehen übertragenen Ansprache drohte Gaddafi nach Angaben des Guardian, die im Deutschen etwa von der NZZ nicht im Wortlaut, aber sinngemäß bestätigt werden, damit, dass er zu gegebener Zeit die Waffenkammern öffnen werde, so dass alle Libyer und Stämme bewaffnet sein würden und sich Libyen mit Feuer röte.

Da der Wahnsinn der Reden des lybischen Staatschefs meist Methode hat, wie der Guardian-Journalist Brian Whitacker unterstellt, ist es in diesem Fall die Angst vor dem Bürgerkrieg, auf die Gaddafi setzt - mit sich als bewährtem Retter und Einheitsbewahrer.

Nach Informationen des Wall Street Journals verlor Gaddafi auch gesternb Gebiete an die sogenannten „Rebellen“: „By Friday, most of the large cities in Libya's east, as well as the strategic oil hub of Al-Zawiya to the west of Tripoli, were under control of anti-Gadhafi forces.“ Auch wurden neue Absetzbewegungen von lybischen Diplomaten im Ausland bekannt, so etwa die gesamte lybische UN-Mission in Genf.

Die britische Regierung versucht nun, auch hohe Funktionäre des Regimes in Libyen selbst davon zu überzeugen, Gaddafi abzuschwören.

Andernfalls, so argumentiert man, drohen Gerichtsverhandlungen wegen Verbrechen gegen die Menschheit. Ob sich der innere Zirkel Gaddafis, die „rechte Hand“ des Dikators, Abdullah Senussi, und andere langjährige härteerprobten Gefolgsleute von solchen Drohungen überzeugen lassen, ist natürlich ungewiss. Möglicherweise zeigt die Drohung mit der Anklage wegen Verbrechens gegen die Menschheit aber außerhalb des härtesten Kreises Wirkung.

Sie könnte durch empfindliche finanzielle Einbußen gesteigert werden. Das Einfrieren von Geldern im Ausland, wie dies amerikanische und europäische Maßnahmen vorsehen, betrifft anscheinend aber nur die Familie Gaddafi:

Barack Obama, the US president, issued an executive order, seizing assets and blocking any property in the United States belonging to Gaddafi or his four sons.

Nach Angaben amerikanischer Regierungsvertreter soll die Regierung Gaddafis Devisen im Wert von mehr als 100 Milliarden Doller Devisen haben; weitere 30 Milliarden soll in Auslandsvermögen - sovereign wealth fund - angelegt sein, das zum Teil in amerikanischen Banken deponiert ist. Das Wall Street Journal beurteilt die finanziellen Maßnahmen gegen die libysche Spitze als durchaus folgenreich:

The new sanctions being devised in New York, Washington and Brussels could have significant impact on global banks and financial institutions. Libya has used its oil wealth to buy properties and investments across Europe and the U.S. and in recent years has taken stakes in Italy's Juventus football club and UniCredit SpA, the country's largest bank by assets.

Das Waffenembargo, das von amerikanischer wie europäischer Seite beschlossen werden soll, kommt allerdings viel zu spät. Waffen, mit denen Regimekritiker getötet werden, sind offensichtlich genug da. Härtere Sanktionen, wie etwa eine No-Fly-Zone, seien im UN-Sicherheitsrat schwer durchzusetzen, heißt es, und auf amerikanischer Seite werden Befürchtungen genannt, die mit dem Wohl der in Libyen verbleibenden Botschaftsangehörigen zu tun haben.