War Propaganda-Nestor Lippmann wirklich Propaganda-Kritiker?

Seite 2: Lippmann versus Sinclair: Die Rechtfertigung einer auf Propaganda gestützten Eliten-Herrschaft

1919 scheint Lippman in kurzen Artikeln gegen Propaganda und für eine freie Presse zu argumentieren, wenn auch zaghafter als Sinclair und dessen großangelegte Studie zum Thema nicht erwähnend. Nachdem es Upton Sinclair trotz aller Widerstände gelingt, das Thema Propaganda und Presse durch die Verbreitung von "The Brass Check" weiter in die Öffentlichkeit zu bringen, legt Lippmann nach.

Er holt 1922 mit einem ähnlich umfangreichen Buch zum Gegenschlag aus und würzt seine nunmehr offene Verteidigung von Propaganda mit einigen bissigen Seitenhieben auf Sinclair, freilich tief versenkt im letzten Viertel des Wälzers.

In Lippmanns 375-Seiten-Werk "Public Opinion", dt. Die öffentliche Meinung, kippt seine Pressekritik aus "Liberty and The News" in die Rechtfertigung einer auf Propaganda gestützten Eliten-Herrschaft. Lippmann wird zum antidemokratischen Advokaten der Elitenherrschaft, wie Rainer Mausfeld schreibt. John Dewey sah in "Public Opinon" die effektivste Anklage der Demokratie seiner Zeit.7

Lippmann analysiert, wie Propaganda funktionieren kann und er wendet sich sogar explizit gegen Sinclair -dessen Buch sich trotz Medienboykott seitens der Pressekonzerne immer besser verkaufte, was weiteres Totschweigen wohl aussichtslos erscheinen ließ. Das macht Lippmann freilich recht geschickt, es gelingt ihm noch heute uns mit seinem Räsonieren über die Erkennbarkeit der Wahrheit einzuwickeln.

Seine charmante Erfindung unserer inneren "Pseudo-Umwelt" aus Stereotypen (sein Begriff geht in unseren Wortschatz ein) lenkt wunderbar ab von jenen konkreten politischen Problemen der freien, aber kapitalistisch organisierten Presse, die Sinclair kritisierte. Lippmann denkt zwar nicht im Traum daran, sich ernsthaft mit Sinclairs Argumenten auseinanderzusetzen, greift ihn aber mit süffisanter Sophistik an:8

Wir werden zeigen, dass Sinclair log, als er behauptete, jemand habe gelogen, und dass jemand log, als er behauptete, Sinclair habe gelogen… Es gibt in der angewandten Psychologie keinen Regelkodex… den Geist des Journalisten zu leiten, wenn er von Nachrichten in das unbestimmte Reich der Wahrheit überwechselt. Es gibt keinerlei Vorschriften, die seinen Geist lenken, noch Regeln, die das Urteil des Lesers oder das des Verlegers zwingend beeinflussen. Seine Version der Wahrheit ist nur seine eigene. Er kann sie nicht beweisen, ebenso wenig wie Sinclair...

Walter Lippmann

Was beschwert sich dieser Sinclair über verlogene Kampagnen gegen ihn selbst und andere Sozialisten und Gewerkschafter, wenn doch kein Psychologe Regeln für die Wahrheit kennt? "The Brass Check" übt eine ausführliche und vernichtende Kritik an der "freien Presse" in den USA, sie sei notorisch verlogen-einseitig, stramm antikommunistisch, korrupt und kriminell.

Dies alles weist Sinclair an konkreten Fallbeschreibungen auf, oft selbst als Betroffener oder Zeuge, wenn etwa Reporter bei ihm einbrachen oder Verleumdungen durch Pressemeldungen ihn sogar einmal ins Gefängnis brachten. Am Ende war es Upton Sinclair persönlich, der "The Brass Check" 1919 im Selbstverlag veröffentlichte und durch zähe selbstorganisierte Werbung immerhin über 150.000 Exemplare zum Selbstkostenpreis vertrieb.

Walter Lippmann sieht in den wenigen, ebenso kurzen wie abfälligen Erwähnungen Sinclairs in seinem Kapitel über "Zeitungen" keinen Grund genauer auf dessen Argumente einzugehen. Ihm genügt, dass "die Presse nicht so allumfassend bösartig und in Verschwörung verstrickt ist, wie Upton Sinclair uns glauben machen will".9

"The Brass Check" und die Pressefreiheit

Upton Sinclair hatte auf 450 Seiten beschrieben und analysiert, wie die sozialistische Position und andere kritische Haltungen im US-Mainstream damals buchstäblich "bis auf‘s Blut" bekämpft wurden. Die kleine Handvoll kritischer Publikationen, die Zehntausenden regimetreuen Schmier- und Kampfblättern die Stirn boten, wurde verfemt, ökonomisch stranguliert, von Krediten, Räumlichkeiten, Druckmaschinen, Papier ferngehalten; ihre Autoren wurden drangsaliert, politisch verfolgt, eingesperrt, sie und ihre Familien bedroht und schlimmstenfalls ermordet.

Die ihnen gegenüber stehenden kapitalistischen Presse-Tycoons, hatten im Hintergrund milliardenschwere Räuberbarone mit paramilitärischen Truppen, schwerbewaffnete "Detekteien" wie Pinkerton, die bei Arbeitskämpfen mit Maschinengewehren anrückten und Streikposten wie Journalisten unter Feuer nahmen. Auch die Familien sozialistischer Aktivisten wurden nicht verschont.

Sinclair beschreibt z.B. die "Colorado Coal-Strikes", wo 11.000 Minenarbeiter im Ausstand waren, um für eine Erhöhung ihrer Hungerlöhne zu kämpfen. Ihre Familien hatten die Arbeiter in einer Zeltstadt abseits in Sicherheit gebracht -doch diese wurde Ziel eines Brandanschlags: drei Frauen und 14 Kinder starben in den Flammen.

Der Massenmord ging als "Ludlow Massaker" in die Geschichte ein. In New York war Upton Sinclair bei einer Protestversammlung von 3000 Menschen, die das Ludlow-Massaker mit Berichten von Augenzeugen bekannt machen wollten. Die Pressereaktion am nächsten Tag: Ein Artikel in "the New York Call, a socialist paper, and two inches in the New York World" -und nicht eine Zeile in den Hunderten anderen New Yorker Zeitungen.10

Sinclair beschreibt, wie er mit Gleichgesinnten vor Rockefellers Büro persönlich gegen das Massaker demonstriert und dabei von Polizisten drangsaliert wird. Er häuft eines solcher Beispiele an das andere, analysiert Hintergründe von Hetzkampagnen, die Rolle der übermächtigen Associated Press im Hintergrund als große Vergifterin der "public opinion".