Waren die Nazis Europafeinde?

Seite 2: Der "europäische Einigungskrieg" und die ökonomische Integration

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Dass eine ökonomische "Integration" Europas im Interesse deutscher Industrie- und Kapitalgruppen geplant und organisiert werden müsse, war schon seit längerem die herrschende Meinung in den Think Tanks des NS-Regimes, vor allem bei den Politikberatern aus dem Schwarzen Korps. Hier galten Konzepte einer "deutschvölkischen Autarkie" als Phantastereien. Eine "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" kündigte 1940 auch Walther Funk an, NS-Wirtschaftsminister und Präsident der Reichsbank (Politische Autobahn). Eine "Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft" leitete der Unternehmer und NS-Ökonom Werner Daitz, an einer seiner Veröffentlichungen war als Autor Karl Schiller beteiligt, nach 1945 einer der Wirtschaftsminister der Bundesrepublik.

Als "Europafreund" tat sich ganz besonders Franz Alfred Six hervor, einer der Chefs im Reichssicherheitshauptamt, NS-Wissenschaftsmanager und Auslandsexperte, Ideologe der "Lösung der Judenfrage" und zeitweise Vorgesetzter Eichmanns. Die hitlerdeutschen Feldzüge charakterisierte er als "europäischen Einigungskrieg", aus den "Gräbern und Schlachtfeldern des Ostens" werde "ein neuer Menschentypus entstehen", "der Freiheitskämpfer Europas"; so sei die "bessere Zukunft und Einheit Europas" garantiert.

Für eine Europäische Union wurden politische Architekturen entworfen: Es sollte der deutschen Herrschaft einverleibte oder direkt unterworfene Länder geben, von der Ukraine bis zu den Niederlanden, und solche mit Eigenstaatlichkeit, Italien, Frankreich, Spanien etwa - "die deutsche Führung ergibt sich dabei ganz von selbst", formulierte Werner Daitz die angezielten Machtverhältnisse. Zölle sollten abgebaut, Banken und Unternehmen konzentriert, Arbeitskräfte europäisch-mobil gemacht werden. Eine europäische Streitmacht unter deutscher Regie war vorgesehen. Dem so vereinten Europa wurde die Fähigkeit zugesprochen, sich Einflusszonen außerhalb seiner Grenzen zu verschaffen, an Afrika, an den Nahen Osten und an den eurasischen Süden war vor allem gedacht. Das russische Reich, ob nun kommunistisch oder nicht, sollte "zergliedert" werden.

Diese Pläne hatten ihre Vorgeschichte. Schon vor und dann verstärkt im Ersten Weltkrieg hatten sich deutsche Industrieherren, Bankiers und Politiker Gedanken darüber gemacht, wie man ein "Neues Europa" zustande bringen könne. Der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg fasste diese im September 1914 so zusammen: Ein europäischer "Verband" sei zu gründen, "unter äußerlicher Gleichberechtigung" seiner Mitglieder, aber "tatsächlich unter deutscher Führung...und bei wirtschaftlicher Vorherrschaft Deutschlands".

Diese Pläne deutscher "Europafreunde" realisierten sich nicht, weder mit dem Ersten noch mit dem Zweiten Weltkrieg. Eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde im Zuge des Kalten Krieges eingerichtet, sie erweiterte sich zur Europäischen Union und dehnte sich nach dem Ende des sowjetischen Blocks in östlicher und südöstlicher Richtung aus. Ein Resultat kriegerischer deutscher Zugriffe ist sie nicht, und ihr politisches System entspricht glücklicherweise nicht den Nazi-Plänen. Aber speziell deutschen Interessen auf der Kapitalseite war die EWG und ist heute die EU durchaus dienlich, und bemerkenswert ist, wie sich ökonomische und auch geopolitische Elemente des Konzepts "europäischer Ordnung" aus wilhelminischen und dann großdeutschen Zeiten in die Gegenwart hinein transferiert haben.

Was aus Nazi-Vordenkern der "Einheit Europas" nach 1945 wurde

Ein biographischer Nachtrag noch zu Nazi-Vordenkern der "Einheit Europas": Giselher Wirsing machte nach 1945 bald wieder Karriere, er wurde Chefredakteur von "Christ und Welt", der zeitweilig auflagenstärksten Wochenzeitung in der Altbundesrepublik. Hermann Proebst avancierte zum Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung" und wirkte als Kurator einer Vereinigung, die nach einer kurzen Schamfrist wieder "Südosteuropa-Gesellschaft" hieß, wie schon in Nazi-Zeiten. Alexander Dolezalek gründete in den 1950er Jahren das "Gesamteuropäische Studienwerk" in Vlotho, eine behördlich anerkannte Stätte der Jugendbildung. Franz Alfred Six wurde nach einer Weile der Haft Verleger und Werbechef bei Porsche, er unterhielt gut Beziehungen zur Journalistik, u.a. zum "Spiegel". Werner Daitz starb gegen Kriegsende 1945. Walther Funk kam beim Nürnberger Prozess vergleichsweise glimpflich davon, er war nach seiner Haftentlassung 1957 zu alt, um wieder gesellschaftlich aktiv zu werden.

An die Millionen von Toten des Krieges für die "europäische Neuordnung", an die Opfer der damit verbundenen "Umsiedlungen" und "ethnischen Reinigungen" haben sich die überlebenden NS-Europaplaner nach 1945 nicht mehr erinnert. In einer Sache mussten sich Männer wie Wirsing, Proebst und Six nun umorientieren: Den USA hatten sie Respekt zu zollen, ohne deren Rückendeckung war das "neue Europa" nicht zu etablieren. Aber der "Todfeind Bolschewismus" blieb ihnen noch einige Zeit erhalten, und so war für sie das "Abendland" an einer gewohnten Front weiter zu retten. Auch mittels militärischer Schlagkraft, wie denn sonst. So konnten sich die ehemaligen Nazi-Europäer in ihrem Weltbild zur Hälfte bestätigt fühlen.

Wirsing und Co. agierten in der Mitte der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Anders einer ihrer Gesinnungsgenossen aus NS-Zeiten, Arthur Ehrhardt, damals Spezialist für "Bandenbekämpfung". Er gründete 1951 in Coburg die Zeitschrift "Nation Europa", die lange Jahre das führende Organ "rechtsaußen" war, danach bestrebt, eine gesamteuropäische faschistische Bewegung in Gang zu setzen. Die Neubelebung solcher politischen Ambitionen hat er nicht mehr erlebt; derzeit hat die Idee einer "europäischen Gemeinschaft" auch in ihrer extrem rechten Variante wieder Auftrieb, zunächst gedacht als Nationen übergreifendes Bündnis rechtspopulistischer oder neofaschistischer Parteien und Organisationen. "Europa" als deklariertes Leitmotiv, so lässt sich resümieren, sagt noch nichts aus über Menschenfreundlichkeit der politischen Inhalte, die sich damit verbinden.

Auf die Ukraine übrigens richteten sich starke Gefühle hitlerdeutscher Europaliebhaber. "Wer Kiew hat, kann Moskau zwingen" - so ein historisches Kalkül. Befürworter eines "europäischen Großraums" war auch Stepan Bandera, der legendäre Anführer jener westukrainischen faschistischen und antisemitischen Bewegung, die zeitweise mit der deutschen Besatzung kooperierte. Die Partei Swoboda und der "Rechte Sektor" pflegen die heroisierende Erinnerung an ihn