Warum "Linke" an der Ökonomie zu scheitern pflegen

Seite 2: Jede Ökonomie muss den Lebensunterhalt der Gesamtgesellschaft erbringen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn es jedoch um Fragen der Ökonomie geht, gibt es einen qualitativen, konsequent vernachlässigten Fundamental-Unterschied in zwei Teilen. Ob es einem gefällt oder nicht, ob es ins politische Weltbild passt oder nicht: Jede Ökonomie einer halbwegs modernen Gesellschaft ist ein hochkomplexes Geflecht aus verschiedensten Dynamiken, Akteuren, Faktoren, Mechanismen, Bedingungen, Logiken, Verflechtungen, Wechselwirkungen, Rückkopplungen und so fort. Beeinflussung an einer Stelle wirkt sich immer mehr- bis vielfach aus, auch an völlig unerwarteten, befremdlichen oder entlegenen Stellen. Allein dies zu erkennen und anzuerkennen, stellt eine gewaltige Herausforderung dar - und ist doch nur eine Hälfte des Unterschiedes.

Die andere ist, dass eine jede Ökonomie den Lebensunterhalt der Gesamtgesellschaft erbringt und das tunlichst unter geringstmöglichen Abhängigkeiten vollbringen sollte. Und falls die politisch stets gebotene Eigenständigkeit nicht realisiert werden kann, sollten die externen Faktoren so weit wie möglich kontrollierbar sein. Auch oder gerade diejenigen politischen Kräfte, die die Ökonomie umkrempeln oder Grundpfeiler der Ökonomie umstürzen wollen, müssen eine angemessene Vorstellung von dieser Grundtatsache haben. Welche Kraft einen politisch induzierten Radikalwandel der Ökonomie erfolgreich bewerkstelligen will, kann dies nur auf der Grundlage der Anerkenntnis vollbringen, dass sie politische Verantwortung für die Ökonomie der Gesamtgesellschaft trägt.

Denn wer immer wie immer eine Ökonomie zu beeinflussen sucht, hantiert mit dem Lebensunterhalt aller - und nicht eben einzig mit dem Geschäft der Kapitalisten und Konzerne. Wer das Grundmuster aus der politischen Arena in die Arena der Ökonomie überträgt, hat schon verloren - selbst wenn die betreffende politische Kraft von Regierungsverantwortung noch weit entfernt ist. Denn die Perspektive wird dann auf das verengt, was "Linken" am leichtesten fällt: Auf die Umverteilung eines Wohlstandes, der als gegeben vorausgesetzt wird, um dessen Erzeugung man sich nicht kümmern muss, weil er ja fortlaufend von Anderen erzeugt wird. (Willkommener Nebeneffekt: Weil er von Anderen erzeugt wird, kann man bei allfälligen Problemen immer diesen Anderen Verantwortung in die Schuhe schieben.)

Also: Wer Ökonomie nicht als ganze sieht und versteht, wer sie nicht als Lebensunterhalt der Gesamtgesellschaft erkennt und anerkennt, wer zudem den Einfluss externer Faktoren vernachlässigt oder ignoriert - den bestraft das Leben. Traurigstes, weil vorhersehbares und deshalb vermeidbares Beispiel liefert die Chávez-Maduro-Politik in Venezuela. Eine Politik für die Gesamtgesellschaft fundamental auf die Annahme zu gründen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen ansehnlichen Öleinnahmen würden ewig so weiter sprudeln und brauchten nur umverteilt zu werden, war und ist unverantwortlich.

Sie war von Anfang falsch, was immer die Bolivarische Revolutionsrhetorik auch verlautbaren mochte. Eine Politik, die den Lebensunterhalt der Gesamtgesellschaft betrifft, von solchen, zudem externen und in keiner Weise kontrollierbaren, noch nicht einmal beeinflussbaren Faktoren abhängig zu machen - kann das "links" sein? Nein.

Obendrein hielt niemand in den Machtzirkeln für nötig, darüber nachzudenken, wie die Wirtschaft Venezuelas jenseits des Öls entwickelt werden könnte. Es sind gerade die "einfachen Menschen", die jetzt die Zeche bezahlen und extrem leiden müssen. Zudem kann das starrsinnige Festhalten an solch verheerender, längst gescheiterter Politik nur noch durch Repression erfolgen - diktatorische Zustände sind nahe (Maduro "ist verrückt wie eine Ziege").

Im Falle Griechenlands versagten alle "Linken" über viele Jahre

Es hatte durchaus mahnende und warnende, kritische und Kursänderungen fordernde Stimmen in Griechenland gegeben - bereits vor vielen Jahren und in allen Parteien. Doch deren Führungen und Funktionärskorps praktizierten eine unverantwortliche Politik: Sie sahen in fortwährenden Kreditvergaben aus Brüssel oder anderswo eine kontinuierlich sprudelnde Einnahmequelle, die ihnen ersparte, die wachsende Fülle der heimischen Probleme anzugehen. Hier hätten die Parteien, die sich als "links" verstanden, revoltieren, einen Aufstand entfesseln sollen, ja müssen. Stattdessen schwiegen sie, duldeten oder wirkten gar mit - als ob es "links" sein könnte, eine Ökonomie und deren Wohlstand durch rasant und kontinuierlich steigende Auslandsverschuldung zu "finanzieren".

An das Zurückzahlen der stetig wachsenden Schulden verschwendete niemand einen Gedanken. Konsequente Eintreibung von Steuern? Noch immer hält Griechenland den betrüblichen Europarekord der unbeglichenen Steuerschulden. Abschaffung von Steuer- und anderen Privilegien? Verschlankung des aufgeblasenen Verwaltungsapparates? Beendigung der Klientelpolitik? Entwicklung der Wirtschaft, um die Abhängigkeit von wenigen Schlüsselsektoren zu verringern? Tourismus und Landwirtschaft sowie steuerbefreite Reeder reichen heutzutage nicht für den Lebensunterhalt einer Gesellschaft. Alle Mahner wurden ausgebootet, auch bei den damaligen "linken" Parteien.

Eine Gesellschaft, die sich derartige Politik und derart verantwortungslose Politiker leistet, die unzählige Gründe hatte, ihre politische Klasse zu stürzen, zur Rechenschaft zu ziehen und dann zum Teufel zu jagen - und diesen Umsturz eben nicht betreibt, eine solche Gesellschaft darf sich weder wundern noch beschweren, wenn sie ganz tief im Schlamassel landet. Und dass die Bevölkerungsmehrheit es nicht schafft, die dramatischen Konsequenzen der verheerenden Politik den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft aufzubürden, sondern sich darin fügt, dass die einfachen Leute bluten - das ist Totalversagen jeglicher Politik. Zumal aber "linker" Politik, die ihren eigenen Ansprüchen zufolge doch gerade solches abzuwenden antritt.

Wenn mitten in solch dramatischem Geschehen ein Parteienbündnis wie Syriza aufkommt und Regierungsverantwortung erhält, kann ihm gar keine andere Rolle als die eines Konkursverwalters bleiben. Noch die schärfsten Parolen, wie sie vor allem Yanis Varoufakis verbreitete, müssen sich unter diesen Voraussetzungen als Schaumschlägerei entpuppen. Letztlich blieb ihm nichts, als Politik durch Pathos zu ersetzen: "Wenn man eine stolze Nation zu lange demütigt, dann gärt es in dieser Nation irgendwann." Es war schon befremdlich, wie häufig diese vormoderne Kategorie bemüht wurde - zudem ohne Erwähnung, dass die griechische Gesellschaft sich von ihrer eigenen Politikerkaste zutiefst hatte demütigen und in ihre schier ausweglose Lage stürzen lassen.

Dass der erbarmungswürdige Alexis Tsipras gegen heftigste Widerstände die Gesellschaft durch dieses schier endlose Tal der Tränen zu führen vermochte, war eine Leistung. Einem sich "links" gebenden Politiker nahm man ab, was man keiner anderen politischen Kraft Griechenlands abgenommen hätte. Vielleicht erhofften die Menschen von ihm (und offenbar nur von ihm), dass er Ideen hätte, in welche Richtungen die Ökonomie entwickelt werden muss, damit die Gesellschaft einen halbwegs gesicherten und zukunftsfähigen Lebensunterhalt in Eigenständigkeit erwirtschaften kann … Hier liegt die essentielle Herausforderung, der Tsipras gerecht werden muss.

Auch Corbyn oder Sanders werden, ihrer "linken" Rhetorik keine "linken" Taten folgen lassen

Wenn man die erwähnten Anforderungen zur Messlatte nimmt, wird augenblicklich erkennbar, dass auch politische Kräfte wie Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders nicht in der Lage sein werden, ihrer "linken" Rhetorik auch nur annähernd "linke" Taten folgen zu lassen. Denn auch sie haben nichts anderes im Blick, als einen Wohlstand, für dessen Erzeugung und Schaffung sie sich nicht wirklich zuständig fühlen, als gegeben zu nehmen und diesen vorrangig anders zu verteilen. Eine solche Sichtweise reicht niemals, die Ökonomie einer Gesamtgesellschaft zu erhalten, zu lenken, zu steuern, zu entwickeln.

Höchst anschaulich bekommen wir dies gerade von François Hollande vorgeführt, der den Eindruck erweckt hatte, als könne und würde er auf dieser Ebene tatsächlich etwas bewegen. Nun hechelt er aussichtslos seinen eigenen Ankündigungen und Versprechungen hinterher und muss zu kruden Verfassungstricks greifen, um überhaupt ein einziges Projekt umzusetzen.

Auch ein Ökonom wie Thomas Piketty, dank überhöhter und unerfüllbarer Erwartungen zum Rockstar aufgestiegen und von Corbyn bereits als Ratgeber angeheuert, ist keine Hilfe, um die Defizite der "Linken" in diesen Fragen zu beheben. Er selbst stellte 2015 klar, was der Kern seines Bestsellers ist: "In my view, Capital in the Twenty-First Century is primarily a book about the history of the distribution of income and wealth."

Genau. Und eben nicht mehr. Auch wenn viele "Linke" in Anflügen von Wunderglauben alles Mögliche hineininterpretieren - die Verengung auf Verteilung ist die Krux, in der sich die "Linke" seit Jahrzehnten gefangen hat.

Überdies ist in der wissenschaftlichen wie akademischen Welt die Zersplitterung des Denkens, Untersuchens und Erkennens so weit vorangeschritten, dass die Gesamtschau keine Heimat mehr hat. Wie viele tatsächliche oder vermeintliche Experten auch gehört werden, sie vertreten ihre jeweiligen Schubladen, mögen die Ausführungen für sich auch noch so substanziell sein.

Unterlassenes oder außer Acht gelassenes Zusammenfügen ist das größte intellektuelle Manko unserer Zeit. Es richtet große Verwirrung an. Gerade für "Linke", die als ihren angestammten Bezugsrahmen stets die Gesamtgesellschaft verstanden (oder haben sie dies vielleicht nur vorgegeben?), hat dieses Manko verheerende Folgen.

Verengte Fokussierung auf Verteilungsfragen und Fehlen der Gesamtschau - die beiden Hauptgründe, warum keine nennenswerte, attraktive, überzeugende oder gar vernünftige Alternative zum Neoliberalismus entwickelt wurde. Diese Ideologie konnte umso weitreichender, tiefgreifender und rasanter große Teile unserer Gesellschaften erfassen und umgestalten, als es keine integrierte, ganzheitliche "linke" Vorstellung von Ökonomie gibt, die hätte dagegen gestellt werden können. Es trägt ja schon fast satirische Züge, dass substanzielle Kritik an zentralen Eckpfeilern des Neoliberalismus aus der Forschungsabteilung des … Internationalen Währungsfonds kommt.