Warum Russland die Ukraine verklagt
Moskau zieht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die genannten Gründe sind teils nachvollziehbar, teils von Doppelmoral geprägt
Russland hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine zwischenstaatliche Beschwerde gegen das Nachbarland Ukraine eingelegt. Interessant sind hierbei vor allem die Gründe, denn die Klage beruft sich auf die Konvention zum Schutz der Menschenrechte, gegen die Kiew nach Moskaus Ansicht verstößt.
Schleppende Strafverfolgung nach Odessa-Massaker
Die Klage betrifft von Russland geltend gemachte Rechtsverletzungen durch die Ukraine im Zuge des Euromaidan-Umsturzes und danach. Es geht um den Tod von Zivilisten und aus Moskauer Sicht illegale Inhaftierungen und Misshandlungen in der Ukraine. Beispielhaft berichtet die russische Presse hier von Vorfällen auf dem Maidan in Kiew selbst oder beim Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa 2014. Das Gebäude war von ukrainischen Nationalisten angegriffen worden, nachdem sich Gegnerinnen und Gegner der Übergangsregierung in Kiew dort verschanzt hatten. Insgesamt kamen bei dem Vorfall 48 Menschen ums Leben - 32 starben im Gebäude selbst und zehn weitere beim Versuch, sich durch einen Sprung aus dem Fenster zu retten, außerdem wurden sechs Personen im Zuge einer Straßenschlacht tödlich verletzt.
Die schleppende Strafverfolgung der Täter war seither häufig Anlass für Kritik - nicht nur von russischer Seite. Jetzt wird sie auch als einer der Gründe für die Klage genannt. Gegen den mutmaßlichen Drahtzieher der Brandstiftung, Andrej Parubi, bis 2019 Parlamentspräsident der Ukraine, wurde erst fünf Jahre später überhaupt ein Strafverfahren eröffnet.
Weiterer Vorwurf: Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung
Russland führt für seine Klage noch weitere Punkte ins Feld. Etwa die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung durch die zwangsweise Verdrängung des Gebrauchs der russischen Sprache sowie die Diskriminierung russischer Unternehmen und Angriffe auf diplomatische Vertretungen Russlands in der Ukraine. Hier ist die Rolle Russlands als Fürsprecher der russischsprachigen Minderheit im Nachbarland nachvollziehbar.
Seit der Präsidentschaft von Petro Poroschenko direkt nach dem Euromaidan wurde mit mehreren Gesetzen Druck gemacht, um den Gebrauch der russischen Sprache, die laut einer Volkszählung im Jahr 2001 Muttersprache von knapp 30 Prozent der Bevölkerung ist, einzuschränken.
Zuletzt wurde 2021 unter dem amtierenden Präsidenten Wolodymyr Selensky ein Sprachengesetz verabschiedet, durch das im gesamten ukrainischen Dienstleistungssektor nur noch Ukrainisch gesprochen werden darf - selbst in mehrheitlich russischsprachigen Landesteilen.
Auch die Blockade des Nordkrimkanals durch die Ukraine moniert Russland in seiner Klage. Dieser Kanal ist von zentraler Bedeutung für die Wasserversorgung der seit 2014 russischen, aber ihrem Status nach zwischen der Ukraine, dem Westen und Russland umstrittenen Halbinsel. Der Kanal wurde 2014 von der Ukraine geschlossen, wodurch den Bewohnern der Halbinsel, die weit mehrheitlich den Wechsel nach Russland bis heute unterstützen, quasi das Wasser abgedreht wird. 80 Prozent der bewässerten Landwirtschaftsfläche und die Hälfte der wichtigen Weinbauflächen sind von Wasser aus der Ukraine abhängig.
Russland kritisiert auch Einschränkungen der Meinungsfreiheit
Weitere Anklagepunkte Russlands beim Gerichtshof muten etwas merkwürdiger an. Etwa die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der der Ukraine und die Belästigung von Journalisten. Beides ist zwar in Kiew für oppositionelle oder prorussische Medien tatsächlich Realität, das gilt aber gleichermaßen in Russland für die regierungskritische Presse, die zu ausländischen Agenten oder gleich zu extremistischen oder unerwünschten Organisationen erklärt wird, womit in manchen Fällen das Ende ihrer Tätigkeit erzwungen wird. Auch Verhaftungen von Journalisten gibt es auf beiden Staaten gleichermaßen.
Ein weiterer Anklagepunkt Russlands gegen die Ukraine betrifft den Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges MH17 über der Ostukraine, für den Kiew von Moskau wegen der fehlenden Sperre des Luftraums verantwortlich gemacht wird. Das ist insoweit delikat, da eine Mitschuld der ukrainischen Offiziellen durch diese Tatsache zwar besteht, die Hauptschuld - der mutmaßliche Abschuss - aber zwischen der Ukraine, prorussischen Rebellen und Russland selbst seit Jahren umstritten ist. Die Urheberschaft des Absturzes ist nicht Gegenstand der russischen Klage.
Abgerundet wird die Klageschrift durch Anschuldigungen gegen die Ukraine wegen der Blockade von russischen Amtshilfeersuchen bei der Strafverfolgung und wegen der Hinderung der Wahlteilnahme von Bewohnern der Rebellengebiete bei der Parlamentswahl in der Ukraine. Eine solche Klage von russischer Seite ist ein Novum, während umgekehrt die Ukraine Russland beim gleichen Gericht seit 2014 bereits neunmal offiziell beschuldigt hat, zuletzt unter anderem wegen Enteignungen von Ukrainern auf der Krim.
Klage mit prominenter Unterstützung
Die russische Klage ist dabei eine hochoffizielle Sache. Sie wurde laut der Moskauer Zeitung Kommersant im russischen Justizministerium vorbereitet und von der Generalstaatsanwaltschaft eingereicht. Genutzt wurde Material eines offiziellen staatlichen Ermittlungskomitees. Unterstützt wird sie auch von einflussreichen russischen Politikern. Der stellvertretende Vorsitzende des russischen Föderationsrates Konstantin Kosatschew bezeichnete bei Facebook die Beschwerde Russlands als wichtigen "Schritt zum Sieg von Gerechtigkeit und Legalität".
Mit einer raschen Bearbeitung der Beschwerde ist nicht zu rechnen. Dmitry Dedow, der russische Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, rechnet gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax mit einer Prüfungszeit von mehr als einem Jahr. Die erste ukrainische Stellungnahme zur Klage kam vom dortigen Justizminister Denis Maljuska auf Facebook. Er sprach sehr scharf von "Mythen russischer Propaganda", "Gehirnwäsche" und einer "unvermeidlichen Niederlage".