Warum kam es zum rechtsnationalen Umschwung in Polen?

Seite 2: Die Schattenseiten des Erfolgs

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Bei all der Euphorie vergas man sowohl in Polen, als auch im EU-Ausland, dass längst nicht alle Polen von der rasanten Entwicklung profitiert haben, dass bedeutende Teile der Bevölkerung abseits der Warschauer Wolkenkratzer und der glänzenden Fassaden in Armut verharrten.

Der Brutto-Durchschnittslohn beträgt offiziell 4.200 Zloty, das wären knapp 1000 Euro. Doch das Hauptstatistikamt veröffentlichte vor 2 Jahren eine Untersuchung, wonach die meisten Arbeitnehmer in Polen 2200 Zloty brutto verdienen, das sind netto ca. 1600 Zloty, knapp unter 400 Euro im Monat. Demnach würden nur 19% der Untersuchten, meist Angestellte und Arbeiter in großen staatlichen Betrieben, tatsächlich den erwähnten Brutto-Durchschnittslohn erhalten. Eine Lehrerin mit 15-jähriger Berufserfahrung kommt auf ca. 450 Euro netto im Monat.

Die Lebenshaltungskosten in Polen liegen nur ca. 15% unter jenen in Österreich oder Deutschland. Lebensmittel, Treibstoffe und Wohnraum sind etwas günstiger, Strom, Gas oder Luxusartikel wie Autos oder Unterhaltungselektronik kosten mehr. Über 20% der Beschäftigten, v.a. junge Menschen, arbeiten mit sog. Müllverträgen, meist sind sie nicht rentenversichert. Nach österreichischer oder deutscher Definition würden somit gut 80% der Polen auch 25 Jahre nach der Wende im Prekariat leben, noch weit unter Hartz IV oder der Mindestsicherung.

Zum Vergleich: Ein anerkannter Flüchtling in Österreich erhält mit der bedarfsorientierten Mindestsicherung im Monat das Doppelte eines polnischen Ärztegehaltes. Auch darüber wird in den polnischen und europäischen Medien gerne hinweggesehen. Die Flüchtlingsthematik, die im polnischen Wahlkampf letztlich nur ein Randthema blieb, muss auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die Polen schuften als billige Arbeitskräfte für westliche Konzerne, die Arbeitszeiten in Polen gehören zu den längsten weltweit, es entgeht ihnen nicht, dass ihre Kollegen jenseits der Grenze oft ein Vielfaches für die gleiche Arbeit erhalten, der Braindrain nach Westen hält unvermindert an.

Der Vater der polnischen Wirtschaftsreformen der Wendezeit und Galionsfigur der Liberalen Leszek Balcerowicz meinte jüngst in einem Interview für die Gazeta Wyborcza auf die Frage, wie man den Schwachen in der Gesellschaft helfen könnte: "Wenn sich jemand die Ohren abfrieren will, können wir es ihm nicht verbieten." Er bezeichnet die Müllverträge als antikapitalistische Propaganda. Der für seine scharfe Zunge bekannte PO-Politiker Stefan Niesiolowski kommentierte vor zwei Jahren die Statistik, wonach fast eine Million Kinder in Polen unterernährt seien, mit den Worten: "Das ist unmöglich. Früher haben wir Ampfer am Straßenrand und Früchte von den herumstehenden Bäumen gesammelt und wir waren alle satt. Warum tut das niemand mehr?" Viele Gebiete, vor allem im Osten des Landes, haben vom Boom der Großstädte ebenfalls weniger profitiert, die Arbeitslosigkeit an der "Ostwand" blieb hoch, die Jungen verließen das Land massenhaft Richtung Westen. Wlodzimierz Karpinski, der Schatzminister in der Regierung Tusk, sagte in einem abgehörten Gespräch zu Strukturfonds für die Entwicklung des Ostens: "Scheiß auf Ostpolen." Es sind auch viele verarmte Ostpolen, die der PiS ihre Stimme gaben.

Der Absturz der PO war vorauszusehen. Aufgrund der polnischen Erfahrung der jahrhundertelangen Fremdherrschaft hatte die Macht schon immer etwas Anrüchiges, Negatives an sich. "Die da oben, an den Futtertrögen" werden mit großer Skepsis beäugt, die Wahlbeteiligung lag nie über 60 Prozent, meist unter 50 Prozent.

Es war eine absolute Ausnahmeerscheinung, dass Donald Tusks Bürgerplattform die Parlamentswahlen zweimal hintereinander gewann. Das lag am Charisma des Premierministers, aber Tusk war auch ein Meister der PR. Er hatte dem Land ein modernes Antlitz verpasst, er fand für seine "grüne Insel" breite Unterstützung bei den urbanen Mittelschichten, die im rasanten Tempo mit gesellschaftlichen Tabus brachen. Sie übersahen dabei, dass das Land gesellschaftlich auseinanderdriftete.

Der "Kulturkampf" zwischen den aufgeklärten, europäisch denkenden und liberalen Kräften und den klerikalen, rückwärtsgewandten "Traditionalisten" tobt bereits seit den Wendejahren, diese Spaltung war selbst in den Solidarnosc-Jahren spürbar, wenn auch durch einen gemeinsamen Feind, den es zu besiegen galt, verschleiert. Die Ersteren hatten immer die Oberhand, während die Rechtskonservativen stets irgendwo bei 25 % laborierten. Nun sind die Fronten so verhärtet wie noch nie zuvor, der Bruch geht nicht selten quer durch Familien.

So sind auch die spontanen Massendemonstrationen auf den Straßen der Großstädte bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme durch die PiS zu erklären. Die meisten Polen hatten genug von den Machenschaften der PO, boykottierten angesichts der fehlenden Alternative und einer empfundenen Machtlosigkeit einfach die Wahlen. Nie hätten sie aber vermutet, dass diese von ihnen oft belächelten Mohair-Mützen von der "Sekte des heiligen Wracks", wie die PiS wegen der Verschwörungsgeschichten rund um den Absturz der Präsidentenmaschine von ihren Opponenten genannt wurde, Ernst machen, dass sie ihren Staat kidnappen würden. Erst langsam erwacht die Zivilgesellschaft aus der Schockstarre.