Warum uns die 1950er-Jahre so faszinieren
Zum 75-jährigen Bestehen der Bundesrepublik: Blick auf die bewegten 1950er-Jahre. Zeit war von Widersprüchen geprägt. Junge Autoren mit neuen Erkenntnissen.
Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz, 75 Jahre Bundesrepublik Deutschland – da liegt es nahe und ist spannend, den Blick auf die Anfänge, sozusagen die Jugendjahre unseres Staates, zu richten. Und die, die 1950er-Jahre, waren eine bewegte Zeit, deren zeitnahe Beurteilung kaum widersprüchlicher ausfallen konnte.
Als kraftvolles Aufleben nach den traumatischen Erfahrungen von Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieges, von Flucht und Vertreibung erlebten und beschrieben es die einen. Als piefig und rückwärtsgewandt oder gar reaktionär empfanden es andere. Und weder das eine noch das andere trifft es für sich allein.
Mit dem zeitlichen Abstand nivellieren sich die Urteile. Denn es ist gerade die Mischung mehrerer Aspekte, die die Faszination dieser Zeit ausmacht, in der es vorrangig darum ging, das materielle und geistige Trümmerfeld, das Diktatur und Krieg hinterlassen hatten, so schnell wie möglich zu bereinigen.
Spannend ist der Rückblick auf 1950er vor allem für diejenigen, die diese Zeit nicht mehr selbst erlebt haben. Folgerichtig hat sich diesem widersprüchlichen "Faszinosum" hinsichtlich von Literatur, Kunst und Populärkultur jener Zeit nun ein Autorenteam gewidmet– und ist dabei auch auf teilweise Unerwartetes gestoßen.
Anfangszeit der Bundesrepublik anders bewertet
"Seit geraumer Zeit wird die Zeit nach 1945 – insbesondere für die Bundesrepublik – anders bewertet. Nicht mehr von Restauration, Muff, Enge und Verstocktheit ist die Rede, sondern von Liberalisierung, Modernisierung, "Westernisierung", Normalisierung oder Rezivilisierung.
Aus der patriarchal-autoritären "Adenauerzeit" sei eine "geglückte Demokratie" geworden. So fasst Erhard Schütz, Literaturwissenschaftler und Professor a. D., in dem "Handbuch Nachkriegskultur" sein Resümee über diese Zeit zusammen. Und ein fast identisches Bild ergeben die über zwanzig mosaikartig zusammengefügten Beiträge zu unterschiedlichen Themen jener Zeit auch in dem transcript-Sammelband zum Thema.
Starker kultureller Wandel
Vor allem in Anlehnung an die in vieler Hinsicht als Vorbild empfundenen USA war diese Zeit geprägt von einem starken kulturellen Wandel. Mit der politischen und wirtschaftlichen Integration in die westliche Welt ließen sich in vielen Bereichen Übergänge vom Vertrauten zum zeitgenössisch Modernen erkennen, etwa in der Durchsetzung der Abstraktion in der Bildenden Kunst oder im beginnenden Siegeszug des Rock 'n' Roll, einem spektakulären und langfristig umwälzenden massenkulturellen Ereignis.
Die Popkultur florierte. Jugendliche begannen, sich von den Traditionen ihrer Eltern zu lösen und neue Lebensstile zu adoptieren. Doch während einerseits die meisten im "Wirtschaftswunderland" Deutschland (West) das (scheinbar) Leichte der Unterhaltung und des Konsums genossen, um möglichst schnell über die Schrecken des gerade zuvor Erlebten hinwegzukommen, manifestierten sich andererseits – vor allem im intellektuellen Bereich – die belastenden Erinnerungen an Krieg, Flucht und Faschismus zunehmend stärker.
Auseinandersetzung mit NS-Zeit
In der Literatur der 1950er-Jahre entwickelte sich – nicht nur, aber doch auffallend stark – die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Epoche und dem Krieg. Literaten wie Heinrich Böll, Günter Grass und Ingeborg Bachmann, der Schriftstellerkreis Gruppe 47 eher auf der Unterhaltungsebene, aber auch Autoren wie Heinz G. Konsalik spielten in den Diskussionen über Moral, Schuld und Verantwortung eine bedeutende Rolle.
Ihre Werke reflektierten die politischen, sozialen und moralischen Herausforderungen auf unterschiedlichen intellektuellen Ebenen und leisteten bei deren Verarbeitung in der Nachkriegszeit einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der deutschen Vergangenheit und der Entwicklung einer neuen Identität.
Zwiespältige Rolle des Fernsehens
Auf dem Gebiet der Medien erlebte das Fernsehen in Deutschland seinen Durchbruch. 1954 wurde die ARD als erste öffentliche Rundfunkanstalt gegründet und läutete damit den Beginn des modernen Medienzeitalters ein. Insgesamt waren die Entwicklung der Medienlandschaft in den 1950er-Jahren und die Gestaltung der Programme vor allem beeinflusst von der weitverbreiteten Sehnsucht nach Normalität und Wohlstand.
Doch das neue Medium Fernsehen brachte auch den Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR sowie die aufkommende atomare Bedrohung in die westdeutschen Wohnzimmer. Damit nahmen dort erneut Kriegsängste und vielfache Gefühle der Unsicherheit Einzug.
Debatte über Konservatismus
Mit den Jahren zunehmend vernehmbarer wurden die Diskussionen um konservative Gesellschaftsnormen und die ersten Auflehnungen gegen diese. Sie wurden in den 1950er-Jahren durchaus lauter, besonders hinsichtlich der Geschlechterrollen. Die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter, bisweilen spöttisch als "die germanische Vollzeitmutter" apostrophiert, war noch weitgehend im allgemeinen Familienbild verankert, was zu eingeschränkten Möglichkeiten für die persönliche und berufliche Entwicklung führte.
Die Gleichberechtigung der Geschlechter war auch rechtlich weiterhin nicht vollkommen durchgesetzt. Auch wenn Frauen in Deutschland bereits seit 1919 das allgemeine Wahlrecht besaßen, so wurde aber erst 1958 die gesetzliche Neuregelung eingeführt, die verheirateten Frauen erlaubte, ohne die Zustimmung ihres Ehemanns einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
In diesem Umfeld entwickelten sich aber auch ein zunehmendes Modebewusstsein und der Einfluss entsprechender Mode- und Frauenzeitschriften. Endlich wieder etwas Luxus – nach den harten Kriegsjahren und den vielfältigen Entbehrungen. Und nach und nach auch die mehr oder minder heftige Auflehnung gegen das traditionelle Vorkriegsfrauenbild.
Aber es entwickelte sich auch eine lebhafte Diskussion über Art und Zustand des Konservatismus insgesamt. Einer der meistbeachteten Beiträge jener Zeit stammt von Friedrich Sieburg, der in der FAZ (23. 9. 1959) unter dem Titel "Darf man noch konservativ sein?" die schlichte Definition gab: "Konservativ sein heißt bewahren wollen. Es heißt, bewahren wollen, was ist, nicht zurückrufen, was gewesen ist."
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Was etwa ein Jahrzehnt später mit der 68er-Jugendrevolte eine radikale Abfuhr erhielt. Und was bis heute keineswegs ausdiskutiert ist. Doch es ging schon in den Fünfzigern nicht nur um die gesellschaftliche und politische Verfasstheit der Menschen. Es zeichneten sich bereits die ersten Abgesänge auf deren pure Existenz und deren Entbehrlichkeit ab.
Der Mensch kann gehen. Und: Die Roboter sind unter uns. So die Titel einiger Publikationen. "Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein, Montagekunst. Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt."
Und so läutete Gottfried Benn 1950 die "Phase II der Moderne" ein. Von unbewältigter Technik und von Menschmaschinen ist die Rede. Fakt war, dass die Automation, wie es aus dem Englischen zunächst übernommen wurde, später eingedeutscht als Automatisierung bezeichnet, rasante Fortschritte im wirtschaftlichen Bereich machte.
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Wovon zunächst besonders die Autoindustrie profitierte. Doch gerade die kommerziellen Vorteile beförderten "den Roboter" zu "einer zentralen Figur im kollektiven Imaginären der bundesrepublikanischen Gesellschaft", wie ein Beitrag von Christoph Jakubowski und anderen eindrücklich in dem neuen Sammelband darlegt.
Und wenn in dieser Zeit angstraunend von Menschmaschinen die Rede war, dann vor allem auch deshalb, weil sowohl Lebewesen wie der Mensch als auch automatisierte Maschinen aufgrund ähnlicher kybernetischer Prinzipien, einem Forschungsschwerpunkt jener Zeit, in Bewegung geraten.
Was von den teilweise bedrückenden Vorhersagen ebenso wie von den zukunftsfrohen Narrativen schließlich Realität wurde, macht den Rückblick aus heutiger Sicht reizvoll. Und es wird deutlich, dass die bisweilen noch immer als unfreiwillig komisch belächelten "Insignien" jener Zeit – von Heimatfilmen und Nierentisch bis zu Rosemarie Nitribitt, der "Kurtisane des Wirtschaftswunders" – eben ein Teil der "Fünfziger" waren.
Aber keineswegs deren Markenkern. Es ist gerade die Vielfältigkeit, das kraftvolle Einlassen auf Versuch und Irrtum, aus dem sich das mosaikartige "Faszinosum" jener Zeit zusammenfügt. Und dessen teilweise Darstellung den vorliegenden Band spannend und lesenswert macht – sowohl für noch lebende Zeitzeugen als auch – und besonders – für Jüngere.