Russland: Neue Heimat für westliche Ultrakonservative?
Putin lädt Rechte aus dem Westen nach Russland ein. Die Resonanz ist bisher gering. Doch für Deutsche, die dort leben, birgt das Land Tücken.
Deutschstämmige, die nach Russland ausgewandert sind, sind kein neues Phänomen. So mancher Mitteleuropäer hat sich in den 90er-Jahren oder im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts auf abenteuerliche Reisen oder durch Geschäftsbeziehungen in Land und Leute verliebt und ist für immer geblieben. Viele blieben sogar bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs im Februar 2022.
Diese Menschen standen jahrzehntelang nicht im Fokus der russischen Politik. Politisch motiviert war die Auswanderung fast nie. Wie die eines deutschen Telepolis-Gesprächspartners, der seit 30 Jahren in St. Petersburg lebt.
"Russland war damals ein aufregendes, offenes und faszinierendes Land im Umbruch, voller Themen und Geschichten, die im Westen mit Sympathie und Interesse aufgenommen wurden. Das ist heute nicht mehr so", erinnert er sich. Auf eigenen Wunsch bleibt er hier anonym, um sich nicht durch Auftritte in westlichen Medien Ärger mit den russischen Behörden einzuhandeln.
Wanderungssaldo in die andere Richtung
Neue Auswanderer dieser Art nach Russland gab es schon seit vielen Jahren kaum noch, als Putin im Herbst das Einwanderungsgesetz seines Landes erneuerte. Stattdessen sollen sich nun politisch Unzufriedene in Westeuropa mit ultrakonservativen Einstellungen von "traditionellen russischen Werten" angezogen fühlen.
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Weil ihnen der neoliberale und "woke" Westen als Lebensraum fehlt. Im Gegensatz zu früheren Regelungen sind Kenntnisse der russischen Sprache oder der russischen Geschichte für einen Daueraufenthalt nicht mehr erforderlich.
Auswanderung nach Russland Randphänomen
Die Auswanderung von Deutschland nach Russland war zahlenmäßig immer ein Randphänomen. Der Wanderungssaldo zwischen Russland und Deutschland verzeichnete nach Angaben des Statistischen Bundesamtes auch nach dem Abebben des Zustroms russischer Spätaussiedler nach Mitteleuropa stets deutlich mehr Fortzüge von Russland nach Deutschland als in umgekehrter Richtung.
Dies verstärkte sich noch nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine, als viele unter dem repressiven Regime leidende Russen ihre Heimat verließen. Dabei war Deutschland aufgrund des strengen Visaregimes für Russen ein eher seltenes Ziel.
Dennoch überstieg die Zahl der Zuzüge aus Russland nach Deutschland im Jahr 2022 die Zahl der Fortzüge um mehr als das Dreifache, im Jahr 2023 um das 2,5-fache. Über 57.000 Zuzügen aus Russland nach Deutschland standen in den letzten beiden Jahren knapp 20.000 Fortzüge nach Russland gegenüber.
Russland wollte stets Einwanderung fördern
Offizielle Versuche, die Zuwanderung aus Deutschland nach Russland zu forcieren, gab es seitens der russischen Regierung bereits früher. Russland befindet sich aufgrund niedriger Geburtenraten in einer schweren demografischen Krise. So wurde bereits in den 2010er-Jahren versucht, Spätaussiedler und Auslandsrussen, die anderswo nicht richtig heimisch geworden waren, zur Rückkehr zu bewegen.
Manche taten dies auch aus Deutschland, wie 2017 die Mutter des heute 19-jährigen Kevin Lick mit ihrem Sohn. Gegenüber Telepolis erklärt er seine Auswanderung heute damit, dass viele Spätaussiedler von der deutschen Bevölkerung eher als Russen wahrgenommen würden.
Sie fühlten sich "stark mit ihrer historischen Heimat und deren Traditionen verbunden". Ein "verzerrtes Nostalgiegefühl" habe auch seine Mutter zur Aussiedlung bewogen.
Große Berichte über kleine Zahlen
Der Versuch, eine nennenswerte politische Emigration aus dem Westen nach Russland aufzubauen, konzentriert sich heute auf den deutschsprachigen Raum.
Der russische Migrationsberater Timur Beslangurow erzählt der Moskauer Deutschen Zeitung in einem aktuellen Interview, dass nach Angaben des russischen Innenministeriums bisher 400 Personen aus westlichen Ländern einen Antrag auf "zeitweiliges Asyl" gestellt hätten. Davon kämen 350 aus Deutschland. Die meisten von ihnen gehörten der Generation 40+ an, "also Leute der alten Schule".
Obwohl Beslangurow im folgenden Text Russland in den höchsten Tönen lobt, zeigen schon die von ihm selbst genannten Zahlen, dass die tatsächliche politische Emigration nach Russland trotz Putins neuen Angebots und zahlreicher Medienberichte kein häufiges Phänomen ist. Experten gehen sogar so weit, dem neuen Programm die Ernsthaftigkeit abzusprechen.
Alexander Libman, Leiter der Abteilung Politik am Osteuropa-Institut der FU Berlin, interpretiert Putins Angebot gegenüber der Schweizer Zeitung nau.ch "als reinen PR-Gag". Wirklich interessiert an einem politisch motivierten Umzug nach Russland seien nur Einzelfälle, für die es keines Erlasses bedurft hätte.
"Eine Zielgruppe, die damit angesprochen wird, gibt es, glaube ich, nicht wirklich."
Zielgruppe der traditionsbewussten Bauern
Der russische Berater Timur Beslangurov sieht das naturgemäß anders. Er nennt etwa konservative Christen oder traditionsbewusste Landwirte als konkrete Zielgruppen, um Westeuropäer für ein Leben in Russland zu begeistern.
Das Beispiel Landwirtschaft ist nicht zufällig gewählt. Aus der Zeit der unpolitischen Auswanderung aus Mitteleuropa nach Russland, lange vor dem Ukraine-Krieg, gibt es vor Ort mehrere erfolgreiche deutschsprachige Agrarunternehmen: etwa die Firmen "Schweizer Milch" oder die vom Deutschen Stefan Dürr gegründete Ekosem-Agrar, die beide lange gute Geschäfte in Russland machten und sich zu regelrechten Agrarkonzernen entwickelten.
"Schweizer Milch" in Russland
Die Besitzer der "Schweizer Milch", seit 20 Jahren im Land, scheinen jedoch seit der russischen Invasion 2022 völlig unpolitisch geworden zu sein. Ein eidgenössisches Journalistenteam berichtet von seinem Besuch bei Landsleuten in der Kaluga-Region 2023, dass Fragen zum Ukraine-Krieg völlig tabu seien.
"Wir müssen uns einfach so weit wie möglich aus der Politik heraushalten", erklärt Betriebsleiter Jakob Bränninger den Journalisten.
Man sei auf Lizenzen des russischen Landwirtschaftsministeriums angewiesen, die man nicht gefährden dürfe. Die Zeiten seien nicht einfach für die Schweizer Bauern in Russland, ihr Wunsch sei, dass "alles wieder so wird wie früher" - die Zeit vor dem Ukraine-Krieg.
Auch dem deutschen Pendant Ekosem Agrar, lange ein Vorzeigebetrieb der russischen Landwirtschaft, geht es nicht gut. Laut der Fachzeitschrift Agrar Heute droht dem Agrarkonzern im April 2024 die Insolvenz und er appellierte an die Gläubiger seiner Agrarholding, auf Einlagen in Millionenhöhe zu verzichten.
"Sonst droht die russische Verwaltung und die Insolvenz."
Nach einem Dekret Putins können ausländische Tochterfirmen mit westlicher Mutter einfach unter Zwangsverwaltung gestellt werden. Das klingt nicht nach einer stabilen Perspektive für Bauern, die nach Russland auswandern.
Wie Emigration auch schiefgehen kann
Wer anders denkt als die Machthaber, ist in Russland derzeit generell gut beraten, seine Meinung für sich zu behalten, wenn er noch berufliche Pläne hat. Das gilt besonders für die Ukraine.
Der zurückgekehrte Spätaussiedler Kevin Lick bekam das deutlich zu spüren. Im Jahr 2022, nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine, beschließen er und seine Mutter, nach Deutschland zurückzukehren.
Nach einer Auseinandersetzung seiner Mutter mit einer zuständigen Behörde wird der damals 17-Jährige vom Inlandsgeheimdienst FSB unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet. "Die Vorwürfe bleiben nebulös" stellt der Journalist Thomas Fasbender von der Berliner Zeitung fest, der selbst viele Jahre in Russland gelebt hat.
Lick hatte Militäreinheiten bei Kriegsausbruch fotografiert, wie er selbst gegenüber Telepolis zugibt. Das habe nur der Dokumentation des Geschehens gedient, "die Fotos wurden von einem Experten des Militärgeneralstabs überprüft. Es stellte sich heraus, dass diese Fotos kein Staatsgeheimnis darstellen".
Die russische Justiz unterstelle ihm "mangelnde Übereinstimmung mit dem politischen Kurs" in Russland als Motiv.
Um welche Bilder es sich handelt, bleibt bis zuletzt spekulativ. Erst im Zuge eines Gefangenenaustausches zwei Jahre später kommt der junge Deutschrusse frei und kehrt nach Deutschland zurück.
Ausreiseberater sind kremlnah – und unkritisch
Für die örtlichen Berater westlicher Auswanderer ist die politische Situation offenbar kein Problem. Timur Beslangurow macht deutlich, dass er den aktuellen Kurs Putins vorbehaltlos unterstützt.
"Wenn in der Welt alles so bleibt, wie es ist, und sich in unserem Land nichts ändert, dann wird die Zahl (der westlichen Einwanderer) steigen. Ich denke, es können Zehntausende sein", euphorisiert er in der Moskauer Deutschen Zeitung und ist in staatsnahen TV-Sendungen ein gern gesehener Gast mit bequemer Meinung.
Einen ähnlichen Ton und politischen Hintergrund haben auch andere Einwanderungsberater für westliche Ausländer in Russland. Etwa das Projekt "Moja Rossija", das unter anderem von der umstrittenen deutsch-russischen Pro-Putin-Bloggerin Alina Lipp getragen wird.
Ursprünglich keine politische Migrantin, gehört sie inzwischen zu den wichtigsten Kreml-Sprachrohren im deutschsprachigen Netz, die jede kritische Distanz zur aktuellen hiesigen Regierungspolitik vermissen lassen. Wer vor Ort stabil im System schwimmt, muss keine Repressionen fürchten und kann Landsleute nach Russland locken.
Deutsche in Russland raten ab
Unser langjähriger Gesprächspartner in St. Petersburg sieht die politisch motivierte Auswanderung nach Russland auch für Ultrakonservative kritisch.
"So jemandem würde ich empfehlen, es zu lassen und sich lieber im eigenen Land in eine konservative Bärenhöhle zurückzuziehen. Es sei denn, man ist in Russland aufgewachsen und kann sich hier halbwegs durchschlagen."
Er selbst werde aber in Russland bleiben, da er vor Ort an der Newa schon zu sehr verwurzelt sei.
Ähnlich äußert sich Kevin Lick nach seinen Erfahrungen gegenüber Telepolis und rät auch Konservativen von einem Umzug nach Russland ab.
"Es ist oft leicht, von idealisierten Vorstellungen zu träumen. Der Alltag kann sich stark von den Erwartungen unterscheiden."
Er hält es auch für möglich, dass diese Deutschen Opfer einer willkürlichen Verhaftung werden. Er lebt jetzt in Franken und will dort bleiben.
Trotz der vielen Anhänger, die Einflussreiche wie Lipp in Mitteleuropa haben, darf man skeptisch sein, was künftige Auswanderungszahlen nach Russland angeht. Krieg mit Drohnenangriffen, islamistische Anschläge oder jüngst eine Business-Schießerei mitten in Moskau wie in den 1990er-Jahren vermitteln nicht den Eindruck einer Stabilität, die zum Leben einlädt.
Zudem gibt es bei der Zielgruppe rechtskonservativer bis rechtsextremer Auswanderungswilliger eine mächtige Konkurrenz, bei der man die Komfortzone des Schengenraums nicht verlassen muss.
Fast 27.000 Deutsche sind im vergangenen Jahr nach Ungarn ausgewandert, wo Viktor Orbán rechte Interessenten weitaus erfolgreicher ködert, als es Russland derzeit vermag. Das wird wohl so bleiben.