Was blockiert die Gesellschaftstransformation?

Seite 2: Von der Logik des kleineren Übels und beruflichen Deformationen der Politiker

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5. Die Logik des kleineren Übels

Eine konsequente Oppositionspartei folgt innerhalb der Logik des Parlamentarismus der Auffassung, dass "die Rechte" nicht an die Regierungsmacht kommen dürfe, würde das doch die parlamentarischen Einflussmöglichkeiten der Oppositionspartei verringern.

Auf eine in der politischen "Mitte" stehende Regierung sei mehr Druck auszuüben und deren Tolerierung im Parlament ein Trumpf, den man ausspielen könne. Zugleich aber muss die konsequente Oppositionspartei darauf gerade verzichten. Sie kann die "weniger schlimme" Regierung ("das kleinere Übel") nicht stürzen, hätte sie sich damit doch die Bedingung ihres Einflusses entzogen. (Die Zeitschrift "Gegenstandpunkt" (1999) hat dieses Dilemma am Verhältnis der Partei Rifondazione Comunista zur Prodi-Regierung in Italien exemplarisch dargestellt.)

Ein Beispiel für die Logik des kleineren Übels bildet das Verhalten der grünen Partei in der rot-grünen Koalition in NRW anlässlich der massiven Streitfrage des Braunkohletagebaus. Sich an diese Geschichte zu erinnern ist auch angesichts der Auseinandersetzungen im Jahr 2019 um Garzweiler lohnenswert.

Im Verlauf der vorangegangenen Koalitionskonflikte um andere Fragen hatte die grüne Landespartei die Verhinderung des Tagebaus flügelübergreifend zu ihrem obersten Ziel erklärt und dies ausdrücklich mit der Koalitionsfrage verknüpft. Die SPD bestand dagegen auf dem 'größten Loch Europas', nicht zuletzt wegen der sonst akuten Gefahr eines Bruchs mit der Bergbaugewerkschaft. Wegen seiner energie- und klimapolitischen sowie auch regionalpolitischen Bedeutung (Umsiedlung und Abbaggerung von 13 Ortschaften) führte der Koalitionsstreit um Garzweiler zu einer außerordentlichen Polarisierung der NRW-Grünen, bei der sich auch ein paar bekannte 'Realos' auf die Seite derer schlugen, die im Falle einer Unterwerfung auch in dieser Kardinalfrage einen völligen Glaubwürdigkeitsverlust der Partei befürchteten, der auch den Reformgehalt des rot-grünen Projekts im Bund beschädigen müsse. Die Koalition trotz Garzweiler II fortzusetzen, bedeute Mitregieren um jeden Preis bei vollständiger Preisgabe eigener Durchsetzungsfähigkeit. [...] Mit hauchdünner Mehrheit setzte sich auf dem Sonderparteitag im Januar 1998 gleichwohl erneut der Regierungsblock mit Unterstützung der Bundesprominenz durch; wiederum in Namen der rot-grünen Ablösung der Kohl-Regierung, wiederum mit Hilfe der irreführenden Behauptung, die eigentliche Entscheidung über den Tagebau stehe nach der Genehmigung des Rahmenbetriebsplans erst noch bevor, weshalb der Kampf in der Regierung fortgesetzt werden müsse.

Kreutz 2007, S. 40

Daniel Kreutz war von 1990-2000 arbeits- und sozialpolitischer Sprecher der grünen Landtagsfraktion in NRW.

6. Das Interesse daran, Opposition zu bleiben

"Status quo" heißt ein Zustand, bei dem es sowohl Interessen daran gibt, ihn wegen seiner Probleme zu überwinden, als auch Interessen, dieser Überwindung gegenüber einen Vorbehalt zu entwickeln infolge der mit ihr verbundenen Probleme. Umso größer der politische Apparat bzw. die Mitarbeiterstäbe einer Parteien, Gewerkschaft oder oppositionellen Organisation werden (inklusive ihrer Bildungswerke und Stiftungen), desto mehr Personen haben nicht nur Engagement für die "Sache", sondern Sorge um ihren Arbeitsplatz.

Den wollen sie durch "zu radikale Aktionen" oder "unpopuläre Positionen" nicht gefährden. "Es besteht eine innere Beziehung zwischen dem Wachstum der Partei und dem Wachstum an Vorsichtigkeit und Ängstlichkeit in der Politik" (Michels 1925, 346). Viele hauptamtliche Mitarbeiter von oppositionellen Organisationen machen den Eindruck, sie wollten gern Opposition bleiben, d.h. ihren Gegner behalten und ihn nicht besiegen oder überwinden.

Denn damit würde die Organisation womöglich unnötig und ihre Arbeitsplätze fielen weg. So etwas wie Marx' Gedanke von der "Selbstaufhebung des Proletariats" als subalterner Klasse ist vielen politischen, gewerkschaftlichen und publizistischen Vertretern von Arbeitnehmerinteressen mehr als suspekt.

Je größer der Kreis derjenigen ist, die mit oppositionellen Organisationen ein eigenes Interesse an ihrer jeweiligen "Stelle" verbinden, "desto mehr treten die nur durch Hingabe an die 'Sache' gebundenen Mitstreiter zurück hinter den 'Pfründnern', wie sie Weber nennt, einer Art von Klienten, die durch die Vorteile und Profite, die er ihnen sichert, dauerhaft mit dem Apparat verbunden sind und die soweit zum Apparat halten, wie er sie hält, indem er ihnen einen Teil der materiellen oder symbolischen Beute zuteilt, die er dank ihrer erringt" (Bourdieu 1991, 507).

Hinzu kommen die Auswirkungen der innerorganisatorischen Hierarchie: "Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie" (Michels 1925, 25). In großen Organisationen werden die hauptamtlichen Mitarbeiterstäbe zum eigentlichen Machtzentrum. "Die Bescheidenheit der Mitglieder drückt ihr Wissen um ihre Unwichtigkeit aus" (Tiefenbach 1998, 189f.).

Ihre Mitgliedsbeiträge sind angesichts der immer weiter gewachsenen Parteien-, Fraktions- und Stiftungsfinanzierung nicht mehr nötig. 'Aktionen' und 'Kampagnen' sind durch Medien- und Parlamentsarbeit ersetzt. Mitglieder sind lediglich da, weil die Partei zahllose untergeordnete Gremien - wie z.B. Stadtteilbeiräte oder Vorstände - besetzen muss

Tiefenbach 1998, S.189

Die Mandatsträger und hauptamtlichen Mitarbeiter haben als "Politprofis" einen Vorsprung an Kompetenzen gegenüber den Parteimitgliedern und bestimmen das Meinungsklima in der Partei. Nicht die Partei führt die Fraktion und ihren Mitarbeiterstab, sondern umgekehrt (vgl. Kreutz 2007, 39).

7. Die Déformation professionelle von Politikern

Wie jede hochspezialisierte Tätigkeit bringt auch das viel Aufmerksamkeit, Zeit und Energie absorbierende Dasein als Funktionär oder Parlamentarier eine Verengung des Blickfeldes auf die spezifische Berufsrolle mit sich.

Wenn man das zu lange macht, ist ganz klar, dass es schwer wird, die totale Fixierung auf Parlamentsabläufe zu verhindern und den Blick auf die politische Gesamtsituation im Blick zu behalten. Dass bei Mandatsträgerinnen und Mitarbeitern ein Tunnelblick auf Parlamente, Parteien und Posten entsteht, ist sehr, sehr wahrscheinlich.

Tobias Pflüger 2006, S. 9

Tobias Pflüger war 2004-2009 ist Abgeordneter der Linkspartei im Europaparlament und ist es seit 2017 im Bundestag.

Die frühere grüne Bundesabgeordnete Verena Krieger beschreibt plastisch den geheimen Lehrplan des Politikerlebens.

Politik hat eine eigene Zeitstruktur, die sich gänzlich von der eines normalen, bürgerlichen Lebens unterscheidet. Diese Zeitstruktur ist hyperflexibel und chaotisch, sie kennt keine Fixpunkte mehr außer den selbstgesetzten der Politik: Sitzungen, Parteitage, Veranstaltungen; Demonstrationen. Politik lässt keinen geregelten Alltag zu. Sie braucht die ständige Verfügbarkeit der Individuen, ihre ständige Alarm- und Einsatzbereitschaft. [...] Politik erzeugt einen ganz bestimmten Menschentyp. Er muß schnell auffassen, bewerten, abhaken, merken, vergessen können. Es fehlt die Muße für das Langsame: für das Zuhören, das Nachdenken, das Infragestellen eigener Gewissheiten. [...] Politik speist sich aus sich selbst und grenzt andere Erfahrungswelten und andere Reflexionsformen systematisch aus. Sie führt zur emotionalen Verarmung.

Verena Krieger, 1991, S. 30

Wir gehen also über von den materiellen Interessen der Politiker zu ihrer Psyche: "Je dürftiger die emotionalen Beziehungen werden, desto größere Bedeutung gewinnen die schnöden Befriedigungsmechanismen des politischen Geschäfts. Politik wird zur Sucht, Macht zum Rausch, Öffentlichkeit zum Lustgewinn. Immer sinnentleerter wird das eigene Tun, und trotzdem kann man immer weniger davon lassen" (Ebd., 32). Jürgen Leinemann (2002, 2004) hat das sehr plastisch an Spitzenfiguren des deutschen Politikbetriebs vergegenwärtigt.

Gewiss existieren neben den skizzierten sieben Problemen noch andere. Z. B. die Widersprüche von "Einstiegs-" oder "Leuchtturmprojekten" (vgl. Werner 2003, 80-93, 88f., vgl. Creydt 1999, I.3). Insgesamt sind manche dieser Probleme alles andere als neu und wurden historisch bereits in mehreren Wellen thematisiert. Vgl. z.B. die Kritik von Rosa Luxemburg (1974a, 54ff, 160f.) um die vorletzte Jahrhundertwende an der Regierungsbeteiligung von (französischen) Sozialisten. Anlässlich der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart weist Luxemburg (1974b, 505ff.) auf die engen Grenzen solcher Posten hin und lehnt die Aufstellung eines eigenen Kandidaten ab. Instruktiv auch Pannekoek 1909.

Schluss

Bei den beschriebenen Blockaden handelt es sich um keine Angelegenheit einer fernen Zukunft, die für die Gegenwart belanglos ist. Bereits auf mittelfristige Sicht hin sehen sich Bewegungen dadurch beeinträchtigt, dass Teilnehmer oder Adressaten ihr Scheitern infolge der benannten Hindernisse erwarten. Festzustellen ist ein Mangel an überzeugenden Antworten auf die Frage, wie mit den beschriebenen Problemen einer Gesellschaftstransformation umgegangen werden kann.

Es wirkt immer wieder faszinierend, welcher geistig-kulturelle Reichtum uns [...] zugänglich wird, und es kann sich darin eine schrankenlose Beliebigkeit von lauter hochrespektablen Interessen und Kennerschaften ergehen. Um so mehr mag man es als einen Mangel empfinden, wenn inmitten solcher Fülle eine Konzentration gemeinschaftlicher Aufmerksamkeit auf einiges wenige streng Obligate, weil Lebenswichtige nicht stattfindet.

Fleischer 1987, S. 231

Zum luxuriösen Charakter vieler Publikationen passt, dass sie mancherlei kommentieren, aber der Beschäftigung mit den zentralen Problemen der Gesellschaftstransformation nicht den Stellenwert einräumen, der ihnen zukommt.