Was das Bahnunglück in Burgrain mit dem Systemversagen der Bahn AG zu tun hat

Unglück nahe Garmisch-Partenkirchen war kein Einzelfall. Management weiß um schlechten Zustand des Schienennetzes. Ein Plädoyer, nicht erneut Bauernopfer zu suchen.

Am Freitag dieser Woche wird die Deutsche Bahn AG ihre Halbjahresbilanz 2022 vorlegen. Im Mittelpunkt werden dabei Aussagen stehen, wonach man jetzt mit der "Generalsanierung" des Schienennetzes beginnen werde. Wonach man ab sofort die "Baumaßnahmen bündeln" und sich dabei auf "acht wichtigste Bahnkorridore konzentrieren" wolle. Verkehrsminister Volker Wissing ergänzt dies mit der Aussage, "Bahnsanierung ist jetzt Chefsache". Und in fast allen Medien werden diese Aussagen voraussichtlich eins zu eins übernommen.1

Das klingt alles wunderbar. Irritiert ist man jedoch, wenn man weiß, dass seit mehr als einem Jahrzehnt behauptet wird, man werde exakt all dies tun. Es sind sogar oft vergleichbare Formulierungen, die dafür gewählt wurden. Der vormalige Bahnchef Rüdiger Grube – der Nachfolger von Hartmut Mehdorn – wollte 2009 "zum Kerngeschäft zurückkehren". Das Gegenteil fand statt – unter Grube wurde mit dem Aufkauf von Arriva das Auslandsgeschäft in massivem Umfang ausgebaut.

Der 2018 neu ins Top-Amt gelangte Bahnchef Lutz versandte im September 2018 einen "Brandbrief", in dem er auf die steigende Verschuldung und auf die immer höheren Ausgaben für auswärtige Beratung verwies und eine "qualifizierte Ausgabensteuerung" verkündete. Das Gegenteil fand statt. Die "Ausgabensteuerung" wurde kurz darauf kassiert. Unter keinem anderen Bahnchef stieg die Verschuldung so dramatisch an, auf aktuell deutlich mehr als 30 Milliarden Euro an.

Der vorausgegangene Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer verkündete vor exakt drei Jahren:

Wir haben mit der Deutschen Bahn das größte Modernisierungsprogramm für die Schiene vereinbart, das es je in Deutschland gab. Wir wollen die Investitionen in die Modernisierung und den Erhalt massiv steigern und für einen Zeitraum von 10 Jahren festschreiben. […] Ziel ist es, die Qualität des Schienennetzes zu sichern und Nachholbedarf bei der Instandhaltung abzubauen, etwa von überalterten Anlagen.

Ein vor drei Jahren verkündeter "Zehnjahresplan", der angeblich in einen 86-Milliarden-Euro-Finanzplan gegossen wurde … von dem jedoch heute mit keinem Wort mehr die Rede ist.2

Tatsache ist: Es gibt seit mehr als zwei Jahrzehnten ein Kontinuum, einen Dauerzustand über all die Amtsperioden der Bahnchefs Hartmut Mehdorn, Rüdiger Grube und Richard Lutz und die Amtszeiten der Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig, Manfred Stolpe, Wolfgang Tiefensee, Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer hinweg: Die Deutsche Bahn fährt auf Verschleiß; die Infrastruktur verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Die Pünktlichkeit liegt im Juni 2022 auf einem Tiefststand. Diese Misere findet auch ihren Niederschlag in schweren Bahnunfällen wie Brühl 2000, Hordorf 2011 oder Bad Aibling 2016.

Und eben Burgrain 2022. Fast schon ist vergessen, was vor sieben Wochen in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen geschah. Wir bezweifeln, dass in der neuen Halbjahresbilanz dieses Zugunglück in gebührender Weise behandelt wird. Und wir befürchten, dass der Vorstand des Bahnkonzerns und der Bundesverkehrsminister daraus erneut nicht die notwendigen Lehren ziehen. Diese lauten: Ab sofort müssen die Hausaufgaben gemacht und die Infrastruktur als Ganzes – und zwar nicht nur diejenige auf einem sogenannten "Hochleistungsnetz" – instand gesetzt werden.

Denn Burgrain – wie zuvor andere schwere Bahnunfälle – sind auch ein Resultat dieses fortgesetzten Fahrens auf Verschleiß, des Abbaus der Beschäftigten im produktiven Bereich, des Chaos im ständig ausgeweiteten oberen und Top-Management. Kurz: Sie sind ein Beispiel für ein Systemversagen.

Das Eisenbahnunglück vom 6. Juni 2022 im bayerischen Ort Burgrain kostete fünf Menschen das Leben; 16 Fahrgästen wurden schwerverletzt. Es wird seitens der Deutschen Bahn AG und in so gut wie allen Medien als Einzelereignis, als "tragischer Unfall", dargestellt. In der Berichterstattung und in den Aussagen der Verantwortlichen der Deutschen Bahn AG wird – wie so oft zuvor bei vergleichbaren Eisenbahnunfällen – auf höchst spezifische Faktoren, die Ursache des Unglücks sein könnten, abgehoben.

Zunächst hieß es, es werde gegen drei Bahnbeschäftigte ermittelt – wohl Anlagenverantwortliche, Fahrdienstleiter und Lokführer. Das würde – wie so oft bei vorausgegangenen Unfällen – auf das berüchtigte "menschliche Versagen" hinauslaufen. Was den Lokführer betrifft, so ist inzwischen mittels Auswertung des Fahrtenschreibers dokumentiert, dass eine entsprechende Schuldzuweisung ins Leere geht; der Mann fuhr mit der zugelassenen und vorgeschrieben Geschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde.

Vergleichbares gilt für Fahrdienstleiter und Anlagenverantwortliche: Auf Basis der uns vorliegenden Erkenntnisse spricht so gut wie nichts dafür, dass tatsächlich "menschliches Versagen" auf dieser unteren Ebene und in diesem direkten Sinn ursächlich für den Unfall war.

Eine andere Variante bei der Ursachensuche geht in Richtung spezifischer technischer oder Materialfehler. So ist aktuell die Rede davon, dass einige an der Unglücksstelle verlegte Betonschwellen "Auffälligkeiten" aufgewiesen hätten, was zu Brüchen von Schwellen und einer "Schienenverschiebung" geführt haben könnte. Und schon gibt es die anscheinend spektakuläre Meldung: Die Deutsche Bahn AG werde jetzt "200.000 Betonschwellen des baugleichen Typs" vorsorglich untersuchen lassen.3

Aus unserer Sicht spricht jedoch viel dafür, dass es sich auch hier um eine irreführende Spur handelt. Solche Betonschwellen könnten eine ergänzende Rolle bei dem Unglück gespielt haben. Schäden an Betonschwellen sprechen jedoch oft dafür, dass der Untergrund – das gesamte Gleisbett – sich verändert hat. Und dass der dadurch entstandene Druck zu Schäden an den dafür besonders empfindlichen Betonschwellen führte. Entscheidend für das Eisenbahnunglück sind aus unserer Sicht andere – eher übergreifende – Faktoren.

Teilweise gerät das Unglück selbst bereits wieder in den Schatten neuer Ereignisse und Berichte. Nur drei Wochen nach dem Burgrain-Unglück gab Bundesverkehrsminister Volker Wissing dem Magazin Der Spiegel ein zweiseitiges Interview, in dem es bei knapp der Hälfte des Gesprächs um die Lage der Deutschen Bahn AG geht. Doch der tragische Unfall wird weder von dem Fragesteller, noch von dem Befragten auch nur erwähnt.

Obgleich es unter anderem primär um den Zustand der Infrastruktur geht. Stattdessen philosophiert Wissing ausführlich und in erkennbar fachfremder Art und Weise über die Frage, warum es zu den sattsam bekannten Verspätungen im Schienenverkehr mit einer Rekordunpünktlichkeit im Sommer 2022 kommt – und welche Patentlösung man jetzt gefunden habe. Nassforsch erklärt Herr Wissing4:

Warum man das bislang nicht getan hat, müssen Sie meine Vorgänger fragen.

Es ist schlicht grotesk, wenn jemand, der mit Schienenverkehr bislang kaum etwas zu tun hatte, behauptet, er habe das Ei des Kolumbus gefunden – wohingegen alle früheren Bundesverkehrsminister und alle Bahnvorstände im vorausgegangenen guten Vierteljahrhundert – also seit Gründung der Deutschen Bahn AG 1994 – unfähig zu einer solchen Erkenntnis ("Bündelung der Bauarbeiten") unfähig gewesen seien.

Schließlich gerät der Burgrain-Unfall in den Windschatten der Berichterstattung angesichts der vielen Dutzend Berichte zum Neun-Euro-Ticket. Soll es verlängert werden? Gibt es ein Anschlussticket? Wie viele Züge pro Woche müssen derzeit wegen Überfüllung geräumt werden? Warum fallen aktuell pro Woche 800 Züge komplett aus?

Schon schiebt die Deutsche Bahn ein ergänzendes, neues Billigheimer-Ticket ins Rampenlicht: Nachdem das Unternehmen bereits mit Aldi und Lidl bei der Ausgabe spezifischer super-preisgünstiger Fahrkarten kooperiert hatte, bietet nun Edeka das sogenannte "Egal-Wohin-Ticket" an: Fahrgäste können mit einem bei Edeka erstandenen Ticket zum Preis von 39,90 Euro für eine einfache Fahrt in den Zügen des Fernverkehrs und des Nahverkehrs einschließlich der Züge der nichtbundeseigenen Eisenbahnen von Kiel nach Garmisch-Partenkirchen fahren.

Na ja, nach Garmisch-Partenkirchen nun doch wieder nicht; da wurde inzwischen wegen des Burgrain-Unglücks die Strecke nicht nur stillgelegt. Der Schienenstrang wurde an der Unglücksstelle in Teilen komplett abgebaut. Wobei es auch dazu keinerlei Berichte und keine Skandalisierung gibt. Könnte das nicht den Tatbestand "Beseitigung von Beweismitteln" erfüllen? Doch zurück zum Edeka-Ticket: Dann eben ein 39,90-Euro-Ticket Kiel – Passau …5

Wussten Verantwortliche vom kritischen Zustand des Streckenabschnitts?

Kaum Beachtung in der bisherigen Berichterstattung zum Burgrain-Unglück fand, dass sich die Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn beziehungsweise bei deren Tochter DB Netz offensichtlich bewusst waren, dass es sich bei dem fraglichen Streckenabschnitt seit geraumer Zeit um eine kritische Stelle handelte. Laut Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 8. Juni gab es eine Baustelleninformation der Deutschen Bahn. Danach sollte es unter anderem eine Gleiserneuerung auf Höhe von Farchant und eine Gleislageberichtigung bei Oberau und Farchant geben.

Das betrifft den Streckenabschnitt des Bahnunglücks. Diese Arbeiten hätten Ende Juni – also nur vier Wochen nach dem Unglück – beginnen sollen. Doch aus der offensichtlichen Erkenntnis eines kritischen Zustands des betreffenden Streckenabschnitts resultierten keine Maßnahmen zum Schutz des laufenden Bahnbetriebs. Insbesondere wurde dort keine Langsamfahrstelle (La) eingerichtet. Es blieb bei der Vorgabe der Fahrgeschwindigkeit von hundert Stundenkilometern.

Nach dem Burgrain-Unglück richtete die Deutsche Bahn eine größere Zahl Langsamfahrstellen ein. Dies erfolgte offensichtlich, wie es in einem Bericht heißt, "um keine weiteren Unfälle zu riskieren."6

Es gab des Weiteren im Vorfeld des Burgrain-Unglücks konkrete Hinweise von Triebfahrzeugführern, wonach der Zustand der Schieneninfrastruktur in dem Bereich, in dem der Unfall stattfand, sich in einem kritischen Zustand befand. Diese Hinweise blieben offenkundig ungehört. In einer aktuellen Sendung des ARD-Magazins Report Mainz wurden die folgenden Kommentare dokumentiert: Lokführer I (Ausschnitt aus WhatsApp-Chat)7:

Wir wissen alle in welchem Zustand diese Strecke ist ...

Lokführer II (ebenfalls Ausschnitt aus WhatsApp-Chat):

Ab Tutzing ist alles im Arsch … Also quasi wirklich richtig im Arsch.

Lokführer III (am Telefon, Stimme nachgesprochen):

Als ich das gehört habe, dachte ich sofort, das hätte auch mir passieren können. Auf der Strecke gab es in den letzten Jahren ganz viele Oberbaumängel, also Schienenfehler, das heißt Gleise, die nicht mehr ganz gerade sind oder sich abgesenkt haben.

Diese Aussagen und der gesamte Report-Mainz-Bericht wirft erneut die Frage auf: Warum wurde an diesem Streckenabschnitt nicht eine Langsamfahrstelle eingerichtet; warum wurde zugelassen, dass in diesem Kurvenbereich weiterhin mit Tempo 100 gefahren werden konnte?