Was das Bahnunglück in Burgrain mit dem Systemversagen der Bahn AG zu tun hat
Seite 2: Vier Folgerungen
Die sich für uns ergebenden Schlussfolgerungen aus der Studie weisen in eine andere Richtung als "menschliches Versagen" oder "ungenügende Technik" oder "fehlerhafte Betonschwellen". Es sind vier wesentliche Feststellungen, zu denen wir gelangen.
Erstens: Die Deutsche Bahn AG sucht Bauernopfer und Sündenböcke oder zufällige Befunde wie Materialfehler. Notwendig ist stattdessen, das Gesamtproblem von Unterfinanzierung und Fahren auf Verschleiß ins Zentrum zu rücken.
Das Top-Management der Deutschen Bahn AG und andere Verantwortliche im Bereich Schienenverkehr (Bundesverkehrsministerium, Eisenbahn-Bundesamt) machen es sich immer wieder zu einfach, wenn im Zusammenhang mit Bahnunfällen wie demjenigen in Burgrain auf "menschliches Versagen" oder "technisches Versagen" beziehungsweise falsche Technik" abgehoben wird.
Das trifft auch zu auf die Anlagenverantwortlichen der Deutschen Bahn bzw. für denjenigen Anlageverantwortlichen, der im vorliegenden Fall für den Streckenabschnitt zuständig ist. Aktuell sind Anlagenverantwortliche für bis zu 400 Kilometer Gleis verantwortlich. In der bereits zitierten, gut recherchierten Sendung des ARD-Magazins Report Mainz wurde dokumentiert, dass diese Bahnbeschäftigten ihren Job angesichts des immer schlechteren Zustands der Infrastruktur und der unzureichenden finanziellen und personellen Ausstattung nicht mehr erfüllen können.
Zitiert wird dabei ein Anlagenverantwortlicher – bezeichnenderweise musste das anonym, "Stimme nachgesprochen", erfolgen – mit den Worten:
Kann eine einzelne Person so viel Verantwortung tragen und ist das überhaupt rechtens? Ist es legitim, wenn ein Unfall passiert, einfach eine Person wie einen Sündenbock in die Wüste zu jagen, der ist dann schuld?
Report Mainz machte dabei auch publik, dass bereits vor drei Jahren eine Gruppe von Anlagenverantwortlichen einen Brandbrief an den Vorstand des Bahnkonzerns gerichtet hatten – was jedoch inhaltlich ignoriert wurde; der Wortführer befindet sich "seit eineinhalb Jahren in der Freistellung", das heißt, er wurde sanktioniert; mundtot gemacht.
In der Summe heißt das: Erneut droht der Fall, dass Sündenböcke benannt werden, mit dem Ziel, von der tatsächlichen Verantwortung abzulenken. Einzelne Bahnbeschäftigte – hier möglicherweise Anlagenverantwortliche – werden als Schuldigen identifiziert.
Doch diese sind nicht Täter, sondern selbst Opfer eines Gesamtsystems, das durch Unterinvestition, unzureichenden Finanzen, Einsatz veralteter Technik und Personalabbau gekennzeichnet ist. Es ist ein Gebot von Fairness und grundsätzlicher Solidarität, dass dieser Art Schuldzuweisung ein Riegel vorgeschoben wird, dass diese Personengruppen in Schutz genommen und ihre Berufsehre verteidigt wird.
Das sollte Aufgabe aller Freundinnen und Freunde der Bahn sein. Und das ist nicht zuletzt die Aufgabe der Gewerkschaften, die im Bahnbereich vertreten sind.
Am Ende dieses Textes gehen wir auf drei exemplarische Bahnunfälle aus jüngerer Zeit ein, die jeweils mit dem Tod von Menschen verbunden sind, und in denen exakt diese problematische Herangehensweise des Suchens nach Bauernopfer festzustellen ist: Auf denjenigen in Brühl im Jahr 2000 (neun Tote), auf denjenigen in Hordorf im Jahr 2011 (zehn Tote) und auf denjenigen in Bad Aibling im Jahr 2016 (zwölf Tote). In allen drei Fällen wurde seitens der Verantwortlichen und teilweise seitens der damit befassten Gerichte auf das besagte "menschliche Versagen" abgehoben.
Bahnbeschäftigte der unteren Hierarchie-Ebene wurden für diese Unfälle verantwortlich gemacht, obgleich in Wirklichkeit die entscheidende Verantwortung an höherer Stelle im System Schiene, im Konzern Deutsche Bahn AG, im Bereich Verkehrspolitik (Bundesverkehrsministerium) beziehungsweise bei der Aufsicht über die Sicherheit im Schienenverkehr (Eisenbahn-Bundesamt) lag.
Zweitens: Es gibt einen unauflöslichen Widerspruch zwischen dem Ausbau des Straßenverkehrs und dem Ausbau der Schieneninfrastruktur. Beides zusammen geht nicht. Und hierzulande finden bis zum heutigen Tag ein Ausbau der Straße und ein Abbau der Schiene statt.
Das System Schiene steht in einem grundsätzlichen Wettbewerb zum Straßenverkehr. Obgleich in der Politik seit mehr als zwei Jahrzehnten – im Einklang mit der allgemeinen Umwelt- und Klimadebatte – behauptet wird, es gebe einen "Vorrang Schiene", findet das Gegenteil statt: Es gibt einen fortgesetzten Ausbau des Straßenverkehrs (und im Übrigen auch des Flugverkehrs) und einen permanenten Abbau der Schieneninfrastruktur.
Von Jahr zu Jahr wird der Investitionsstau im Bereich Schiene größer. Es gibt damit immer deutlicher ein Fahren auf Verschleiß. Das wurde in den letzten zehn Jahren in mehr als einem halben Dutzend Berichten des Bundesrechnungshofs dokumentiert.
Dieser allgemeine antagonistische Widerspruch Straße-Schiene lässt sich beim Burgrain-Unglück konkretisieren: Ein wesentlicher Faktor bei diesem Unglück besteht darin, dass als Ergebnis eines autobahnähnlichen Straßenausbaus vor gut zwei Jahrzehnten am Bahndamm just an der Unglücksstelle ein gefährlicher Steilhang mit einem im Fall eines entgleisten Zugs todbringenden Bachbett geschaffen wurde.
Gleichzeitig wurde damit auf Dauer verhindert, dass die fragliche Strecke jemals zur Zweigleisigkeit ausgebaut werden könnte.
Für eine solche Verkehrspolitik – die bundesweit hundertfach zu beobachten ist – sind Politiker und Top-Leute des Bahnkonzerns bzw. Führungskräfte des Eisenbahn-Bundesamtes verantwortlich, die zugleich behaupten, man wolle den Schienenverkehr "bis 2030 verdoppeln".
Hier haben wir ein konkretes Beispiel dafür vorliegen, wie der das Klima belastende Straßenausbau nicht nur hinsichtlich der Finanzen, sondern ganz praktisch hinsichtlich der Kapazitäten den Bahnverkehr, der das Klima eher schont, einengt und beschädigt. Unter den gegebenen Bedingungen der vorherrschenden Verkehrspolitik ist das Ziel "Verdopplung des Schienenverkehrs" völlig illusorisch.
Drittens: Die Schieneninfrastruktur darf nicht die Melkkuh des Bahnkonzerns bleiben. Die gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft ohne Gewinnabführung an die Holding ist notwendiger denn je. Doch das im Koalitionsvertrag festgehaltene Vorhaben droht erneut verschleppt zu werden.
Die Deutsche Bahn AG beweist seit mehr als zwei Jahrzehnten, dass sie nicht bereit und willens ist, die Schieneninfrastruktur mit der notwendigen Betriebssicherheit zu erhalten. In dieser spezifischen Situation entstand die Forderung, dass die – im Übrigen sachfremd zersplitterten – Infrastrukturgesellschaften für das Netz (AG DB Netz), für den Bereich Bahnhöfe (DB Station und Service AG) und für die Energie (DB Energie GmbH) in einer gemeinnützigen Infrastrukturgesellschaft zusammengelegt werden sollten.
Damit soll unter anderem erreicht werden, dass die beträchtlichen staatlichen Mittel (mehr als fünf Milliarden Euro jährlich), die in diese Bereiche fließen, ausschließlich für Infrastrukturzwecke verwendet und dass die in diesen Bereichen erzielten Gewinne nicht mehr, wie bislang, ganz oder in großen Teilen an die DB-AG-Holding fließen, wo sie wiederum für völlig andere Projekte, auch für bahnfremde Engagements, nicht zuletzt solche im Ausland, eingesetzt werden können.
Die Ampel-Regierung hat die Zielsetzung "neue Infrastrukturgesellschaft" in den Koalitionsvertrag aufgenommen, wenn auch dabei der Bereich Energie aus nicht nachvollziehbaren Gründen ausgeklammert wurde. Ein Umbau des Konzerns Deutsche Bahn AG in diesem Sinn wurde in dem Vertrag vereinbart, wobei die neue gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft, in der DB Netz und DB Station und Service zusammengefasst werden sollen, Teil des Bahnkonzerns bleiben soll.8
Formal haben dieser Vereinbarung außer den drei Koalitionsparteien auch die Bahngewerkschaft EVG zugestimmt. Die GDL fordert eine solche unabhängige Infrastrukturgesellschaft seit Langem.
Inzwischen wird jedoch über dieses Ziel kaum mehr gesprochen. Im genannten Interview mit Verkehrsminister Wissing findet sich dazu kein Wort. Und wenn doch davon die Rede ist, dann heißt es, dass mit dem entsprechenden Umbau 2023 begonnen werden würde. Ergänzend heißt es dann, es handle sich um einen langandauernden Prozess des Konzernumbaus.9
Das spricht dafür, dass das Vorhaben auf die lange Bank geschoben und möglicherweise in dieser Legislaturperiode gar nicht mehr umgesetzt wird. Der zitierte Verweis, es würde sich hier um einen aufwendigen Umbau des Konzerns Deutsche Bahn AG, muss relativiert werden: Anfang 2008 wurde aus dem Bahnkonzern binnen weniger Wochen die DB ML (Deutsche Bahn Mobility Logistics) als damals neue Subholding ausgegliedert. Damit sollte die Privatisierung des gesamten Bahnbetriebs, einschließlich der Logistik-Firma Schenker und der DB-Tochter Arriva, ermöglicht werden.
Im August 2016 wurde dann diese Doppelstruktur DB ML wieder aufgelöst. Dieser Umbau und Rückbau waren mindestens so aufwendig wie die nun mit der neuen Infrastrukturgesellschaft vorgesehene Umstrukturierung. Doch beides beanspruchte jeweils weniger als ein halbes Jahr Zeit.
Der Verweis, die Umsetzung dessen, was im Koalitionsvertrag dazu formuliert ist, komme einer "Zerschlagung der integrierten Bahn" gleich, überzeugt nicht. Ich bin – zusammen mit den Verfassern der erweiterten Burgrain-Studie – davon überzeugt, dass das System einer integrierten Eisenbahn, wie es ein solches in der Schweiz gibt, optimal ist. Und dass eine solche Gesamtstruktur des Schienenverkehrs auch hierzulande notwendig wäre und machbar ist. Doch die Politik ging in Deutschland einen anderen Weg – beginnend mit der Bahnreform von 1994 und der Gründung der Deutschen Bahn AG.
Inzwischen existiert in Deutschland längst kein integriertes System Schiene mehr. Fast die Hälfte des Schienenpersonennahverkehrs und ebenfalls fast die Hälfte des Schienengüterverkehrs werden von Eisenbahnverkehrsunternehmen bestritten, die nicht Teil des Konzern Deutsche Bahn AG sind. Der Konzern Deutsche Bahn AG wiederum ist ein Player, wenn auch der größte, unter vielen. Er agiert nach rein privatwirtschaftlichen Kriterien.
Gleichzeitig hat er jedoch im Bereich Infrastruktur ein Monopol behalten. Dieses nutzt er, wie jeder Monopolist, der privatwirtschaftlich agiert, indem er die Nutzer der Infrastruktur – eigene Töchter und private Konkurrenz – schikaniert und als Melkkühe betrachtet, indem er Infrastruktur abbaut, indem er aus dem Fahren auf Verschließ Gewinne generiert und indem er diese Gewinne an die Holding transferiert. Auf diese Art und Weise wird die sprichwörtliche Sicherheit im Schienenverkehr gefährdet.
Überdies sind hohe Trassenpreise und überdurchschnittliche hohe Bahnhofnutzungsentgelte die Folge – was wiederum heißt, dass damit Bahnverkehr eingeschränkt und teilweise ausgebremst wird. Aus all diesen Gründen ist die genannte unabhängige und gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft dringend erforderlich.
Viertens: Die Sanierung der Schieneninfrastruktur muss ab sofort im Zentrum stehen. Großprojekte, die Schieneninfrastruktur zurückbauen oder schädigen beziehungsweise die große Finanzmittel erfordern, sind zu stoppen.
Angesichts des miserablen Zustands der Schieneninfrastruktur muss das allererste Ziel jeder Politik im Bereich Schienenverkehr darin bestehen, die Sanierung dieser Infrastruktur in Angriff zu nehmen. Aufgrund der bekanntermaßen deutlich beschränkten Ressourcen der Deutschen Bahn AG müssen vor dieser Aufgabe alle Großprojekte so lange zurückstehen, bis auch die letzte schadensbedingte Langsamfahrstelle (LA) im Netz der DB AG beseitigt ist.
Kritische Projekte, also solche, die zu einem Rückbau von Schieneninfrastruktur oder einer Kapazitätsverminderung führen (siehe Hamburg/Altona-Diebsteich, siehe Stuttgart 21, siehe Gäubahn / Panoramabahn) oder solche, die die Umwelt schädigen (Fehmarn-Querung, Brennerbasis-Zulaufstrecken), müssen unverzüglich auf den Prüfstand gestellt und gestoppt werden. Neu geplante Bahnstrecken mit Geschwindigkeiten von Tempo 300 (Hamburg–Maschen–Hannover; Hannover–Bielefeld, Bielefeld–Hamm–Würzburg–Nürnberg) und gewaltige neue Tunnelprojekte (Fernbahntunnel in Frankfurt/M.) sollten bereits aus Gründen des Klimaschutzes, aber auch hinsichtlich des sinnvollen Einsatzes der Finanzmittel ebenfalls auf den Prüfstand gestellt werden.
Ein Projekt wie die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München (gegen das es überzeugende sachliche Argumente gibt und zu dem auch sinnvolle Alternativen entwickelt wurden), ist bereits aufgrund des gigantischen Finanzrahmen (Verzehnfachung der Kosten auf aktuell 7 Milliarden Euro) und einer absurd langen Umsetzungszeit (Inbetriebnahme 2037) aufzugeben.10