Was die Geschlechter können, sollen und dürfen...
Seite 2: Unentschiedene Geschlechter
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Jonathan Gilb zog vom Kopf seinen Hut:
"Gibt’s nur die beiden Möglichkeiten?"
Auch hier scheinen Zoologie und Soziologie im Clinch zu liegen. Biologisch hat jedes Lebewesen (außer Pilzen) im Normalfall eines von zwei Geschlechtern. Soziologisch aber ändert sich mit der Übereinkunft darüber, wie die Geschlechter sind, auch die Grenzziehung zwischen ihnen.
Wenn die soziale Geschlechterrolle, welche transidente Menschen für sich annehmen, von ihrem biologischen Geschlecht unabhängig ist - warum sollte das für andere Menschen anders sein? Warum sollten sich nicht, bei zwei biologischen Geschlechtern, unendlich viele soziologische Geschlechterrollen festlegen lassen? Ja, ist das nicht vielleicht schon der Fall, indem Männlichkeit für Bruce Willis etwas anderes bedeutet als für Bill Gates, und Weiblichkeit für Salma Hayek etwas anderes als für Angela Merkel?
Andere Kulturen konstruieren Geschlechtsidentitäten seit Langem anders als das Abendland. Manche sehen zusätzliche Rollen vor, die in der aktuellen westlichen Diskussion als "drittes Geschlecht" bezeichnet werden, wie die Hijra in Südasien. Nordamerikanische Natives kennen anscheinend das Konzept von Geschlechtsidentitäten, die vom körperlichen Geschlecht abweichen, und die Bugis in Süd-Sulawesi anerkennen fünf Geschlechter. Offensichtlich - so viel kann man zugestehen - gibt es weder Notwendigkeit noch Rechtfertigung dafür, Menschen anhand ihres Körpers auf eine Geschlechtsidentität festzulegen.
Andererseits stimmt es nicht, dass diese abweichenden Konzepte das abendländische binäre System über den Haufen werfen. Die fünf sozialen Geschlechter der Bugis sind: "weiblich", "männlich", "weiblich-zu-männlich gewechsel", "männlich-zu-weiblich-gewechselt" und "unentschieden". Sie umfassen damit genau die logischen Möglichkeiten, die das binäre System bietet, und keine einzige mehr. Ähnlich ist es bei den nordamerikanischen Indigenen oder den Hua in Papua-Neuguinea, die bei Gender-Ethnologen als Anschauungsmaterial beliebt sind: Sie erlauben zwar den Übergang zwischen den Polen, verleugnen aber die Pole nicht.
Was wäre universal?
Wenn wir wissen wollen, ob es in der kulturellen Konstruktion von Geschlechtsidentitäten allgemeingültige Muster und Grenzen gibt - die vielleicht auf biologische Vorgaben zurückzuführen sind -, dann wäre der Königsweg dahin eine Art kulturvergleichende Suche nach Universalien. Für die Arbeitsaufteilung zwischen den Geschlechtern ist das vor bald 50 Jahren gemacht worden.
Im Überblick über 185 Kulturen zeigte sich (Zusammenfassung), dass es Tätigkeiten wie die Jagd oder die Metallbearbeitung gibt, die in keiner Kultur von Frauen ausgeübt werden, wohingegen vor allem Kochen und Textilverarbeitung meist den Frauen überlassen wird. Der Grund dafür dürfte weniger in der Körperkraft liegen als in den Erfordernissen der Kinderbetreuung. Daher löst sich diese Zuordnung in der abendländischen, städtischen Zivilisation zunehmend auf.
Solch ein unvoreingenommener Überblick über die Kulturen der Welt wäre auch wünschenswert zur Frage, wie und wie viele Geschlechtsidentitäten konstruiert werden. Denn dass etwa Menschen bei den Hua in Neu-Guinea zur Midlife-Crisis ihr soziales Geschlecht wechseln können, ist zwar ungemein weltbilderweiternd und ein sicheres Antidot gegen jede einfache Verallgemeinerung.
Für die Wissenschaft aber, deren Streben die Suche nach Regeln, Mustern und Gemeinsamkeiten ist, ist es weitgehend irrelevant. Hilfreicher wäre eine Art kultureller Universalienforschung, ähnlich wie sie in der europäischen Linguistik hypothesenfrei durch Sprachvergleich nach Regelhaftigkeiten in der Syntax sucht und dabei auf Wenn-Dann-Gesetze stößt.
Dagegen versuchte die amerikanische Linguistik im Gefolge von Noam Chomsky, aus der Kenntnis von Englisch und Spanisch - was man halt in den USA so kann - die Universalgrammatik der über 6000 Sprachen der Welt zu induzieren.
"Lehnstuhlwissenschaft" nannte man das in Europa gerne. In der Gender-Forschung scheint es eine ähnliche Form der Lehnstuhlwissenschaft zu geben, nur im Negativ: Angesichts einer Handvoll von Kulturen, die mit Geschlechtsidentitäten anders umgehen, wird das, was westliche Forscherinnen und Forscher daheim vorfinden, als einsame Ausnahme disqualifiziert. Auch darin steckt ein paradoxer Eurozentrismus, denn die soziale Definition von zwei Geschlechterrollen, die man vermutlich in der Mehrheit der Kulturen der Welt findet, wird als typisch westlich reklamiert - nur um sie unmittelbar darauf zu verwerfen.
Südamerikanische, ostasiatische, australische, geschweige denn afrikanische Geschlechtsdefinitionen spielen in der Diskussion daher keine Rolle, sofern sie nicht die Wunschbedingung erfüllen, sich von der westlichen Norm zu unterscheiden.
Die Ursache für diese Fokussierung auf die Ausnahmen könnte darin liegen, dass Genderforschung sich häufig nicht als objektive Wissenschaft versteht, sondern gesellschaftlichen Aktivismus für sich reklamiert. Politische Wirkung ist nicht nur akzeptiert, sondern sogar gewünscht. Damit stellt sich die Frage, wie Geschlecht und Geschlechterrollen politisch gesehen werden. Das ist das Thema des dritten Teils dieser Serie.
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