Was die Geschlechter können, sollen und dürfen...

... bestimmt nicht die Biologie allein. Frauen, Männer, Perspektiven. Das soziale Geschlecht (Teil 2)

In der ersten Folge dieser Serie wurden die menschlichen Geschlechter aus biologischer Sicht betrachtet. Aus dieser Perspektive gibt es genau zwei Geschlechter. Welchem von beiden ein Mensch angehört, wird während der Entwicklung hormonell festgelegt. Da die körperliche Geschlechtsidentität früher bestimmt wird als die seelische, kann es vorkommen, dass ein sich verändernder Testosteronspiegel der werdenden Mutter zu einer Diskrepanz führt. Dann hat das Kind möglicherweise seelisch ein anderes Geschlecht, als es körperlich darstellt.

Ist damit alles gesagt?

Offensichtlich nicht. Denn der Mensch ist ein Kulturwesen. Kultur ist seine Natur. Natürlich gibt es Männer und Frauen. Aber wie sie sind und sein dürfen - das hängt sehr stark von der Kultur ab. Darum unterscheidet das Englische eigentlich zwischen sex und gender. "Eigentlich" deshalb, weil mir scheint, dass die ursprünglich sinnvolle Unterscheidung im allgemeinen Eifer, das hippere "gender" zu benutzen, mittlerweile fast geschleift worden ist - siehe "gender reveal parties". Vielleicht ist daher die etwas steifere Rede vom "biologischen" und "sozialen Geschlecht" zutreffender.

Mit der Unterscheidung kommt die Frage: Wie weit kann sich das soziale vom biologischen Geschlecht lösen? Darüber gibt es viel Streit, unter zwei Aspekten: darüber, was weiblich und männlich sei, und darüber, ob dies die einzigen zwei Möglichkeiten seien.

Echte Kerle und zarte Frauen

Dass der Mann hinaus in die feindliche Wildnis müsse, während daheim sittsam am Herde die züchtige Hausfrau waltet - das ist, im Gegensatz zum Körperbau der beiden, keine biologische Tatsache. Sondern eine Erfindung der Frühromantik, die weder vorher noch nachher noch nebenher immer wahr gewesen wäre.

Sehr viele Vorstellungen von dem, was "männlich" und was "weiblich" ist, die wir für selbstverständlich halten, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als kulturelle Konventionen. Das fängt schon mit den Farben an: Rot, die Farbe des Blutes und des Mars, des Roten Korsaren und des Toreros, war bis in die Neuzeit hinein mit männlicher Kraft assoziiert, das sanfte Blau hingegen, das die Madonna auf Fresken trägt, mit dem Weiblichen.

Aber von wegen: "sanft". Frauen vertragen ebenso viel oder wenig Schmerzen wie Männer - vom Geburtsschmerz ganz zu schweigen. Wie aggressiv Menschen im Gegenzug sind, hängt weit mehr von den Zuständen in ihrem Heimatland und ihrer unmittelbaren Umgebung als von ihrem Geschlecht ab. Zwar schlagen Jungen eher einmal zu als Mädchen, aber wenn es daran geht, Mitschüler auszuschließen und zu mobben ("Beziehungsaggression"), nehmen sich die Geschlechter nichts. Und dass Frauen ebenso schlecht regieren können wie Männer, wenn man sie nur lässt, ist in den letzten Jahrzehnten hinreichend bewiesen worden.

Mythos Mathe-Schwäche

Hartnäckig hält sich auch der Glaube, Mädchen und Frauen seien schlecht in Mathematik. "Mädchen sind halt nicht gut in Mathe. Das war bei meinen Töchtern auch so", glaubte die Grundschullehrerin meiner großen Tochter zu wissen. Tatsächlich aber gab sie sich damit selbst als Problem und Ursache zu erkennen, denn eine viel- aber offenkundig nicht genug beachtete Studie hatte kurz zuvor gezeigt: Schuld sind Lehrerinnen mit genau dieser Voreinstellung.

Mädchen werden in der Grundschule dann und nur dann schlechter im Rechnen, wenn ihre Lehrerin (und es sind halt fast nur Frauen) selbst Angst vor Mathematik hat. Was, nebenbei bemerkt, ein Beispiel dafür ist, dass die Unterdrückung der Frauen durchaus nicht nur von Männern ausgeht.

Schon der Ansatz, soziale Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus der Biologie herzuleiten, ist bei historischer Betrachtung fragwürdig. Bis zum Siegeszug der Naturwissenschaften in der Aufklärung wäre auf diesen Gedanken niemand gekommen. Unterschiede zwischen Menschen bestanden bis zur Französischen Revolution ohnehin zuallererst in ihrem Stand: Die Markgräfin wäre niemals auf die Idee verfallen, sich mit der Magd gegen den Markgrafen zu solidarisieren.

Erst, als die Köpfe des Adels rollten, merkten die Revolutionäre, dass sie das mit der "égalité" nicht ganz so gemeint hatten, soweit es Frauen betraf. Da die bewährten Rechtfertigungen der Ungleichheit nicht mehr verfügbar waren, beschworen sie die Biologie und guillotinierten Olympe de Gouges. Die Geschlechtscharaktere, die uns heute selbstverständlich erscheinen, wurden im Bürgertum erst von da an konstruiert.

Bedeutet das, dass jegliche Zuschreibung von "weiblichen" und "männlichen" Eigenschaften immer nur kulturell bedingt ist? Dass die Biologie nichts mitzureden hätte?

Letztlich wissen wir es nicht, denn eine völlig geschlechtsneutrale Erziehung ist noch nie versucht worden - heute weniger als noch vor einigen Jahrzehnten, wie ein einfacher Blick in ein Geschäft für Babybekleidung oder einen Spielwarenladen offenbart. Kultur formt das Geschlechterbild in hohem Maße. Trotzdem spricht vieles dafür, dass es biologische Grenzen gibt. So spielen kulturelle Konventionen bei unseren nahen tierischen Verwandten sicherlich keine Rolle.

Aber wenn man einer Gruppe Makakenkinder Puppen und Autos zum Spielen gibt, dann spielen die Mädchen mit den Puppen - sogar in der Wildnis - und die Jungen mit den Autos. Dass solche Präferenzen auch beim Menschen veranlagt sein dürften, hat das grausige, tragische Experiment an David (Bruce) Reimer überdeutlich gemacht. Ja, tatsächlich bestätigen auch die Erfahrungen von Transsexuellen - gemeinhin als Kronzeugen fluider Geschlechtergrenzen angerufen -, dass das Selbstbewusstsein einer gewissen Geschlechtsidentität - und zwar der anderen von zweien - im Inneren hart verdrahtet ist.

So bleibt die Erkenntnis: Wie kulturell formbar soziale Geschlechterrollen sind, ist unwissbar, denn der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen. Es wäre geradezu gegen die Natur des Menschen, ihn ohne soziale Einbindung aufzuziehen: Wolfskinder zeigen gerade nicht, wie der Mensch von Natur aus ist. Daher ist die Bestimmung, was weiblich und männlich sei, immer an die jeweilige Kultur gebunden; das "Richtige" gibt es nicht. Es ist sowohl falsch, zu behaupten, "eigentlich" seien Männer wilde Kerle und Frauen zarte Röslein, als auch zu behaupten, "eigentlich" seien sie ganz gleich.

Unentschiedene Geschlechter

Jonathan Gilb zog vom Kopf seinen Hut:
"Gibt’s nur die beiden Möglichkeiten?"

Auch hier scheinen Zoologie und Soziologie im Clinch zu liegen. Biologisch hat jedes Lebewesen (außer Pilzen) im Normalfall eines von zwei Geschlechtern. Soziologisch aber ändert sich mit der Übereinkunft darüber, wie die Geschlechter sind, auch die Grenzziehung zwischen ihnen.

Wenn die soziale Geschlechterrolle, welche transidente Menschen für sich annehmen, von ihrem biologischen Geschlecht unabhängig ist - warum sollte das für andere Menschen anders sein? Warum sollten sich nicht, bei zwei biologischen Geschlechtern, unendlich viele soziologische Geschlechterrollen festlegen lassen? Ja, ist das nicht vielleicht schon der Fall, indem Männlichkeit für Bruce Willis etwas anderes bedeutet als für Bill Gates, und Weiblichkeit für Salma Hayek etwas anderes als für Angela Merkel?

Andere Kulturen konstruieren Geschlechtsidentitäten seit Langem anders als das Abendland. Manche sehen zusätzliche Rollen vor, die in der aktuellen westlichen Diskussion als "drittes Geschlecht" bezeichnet werden, wie die Hijra in Südasien. Nordamerikanische Natives kennen anscheinend das Konzept von Geschlechtsidentitäten, die vom körperlichen Geschlecht abweichen, und die Bugis in Süd-Sulawesi anerkennen fünf Geschlechter. Offensichtlich - so viel kann man zugestehen - gibt es weder Notwendigkeit noch Rechtfertigung dafür, Menschen anhand ihres Körpers auf eine Geschlechtsidentität festzulegen.

Andererseits stimmt es nicht, dass diese abweichenden Konzepte das abendländische binäre System über den Haufen werfen. Die fünf sozialen Geschlechter der Bugis sind: "weiblich", "männlich", "weiblich-zu-männlich gewechsel", "männlich-zu-weiblich-gewechselt" und "unentschieden". Sie umfassen damit genau die logischen Möglichkeiten, die das binäre System bietet, und keine einzige mehr. Ähnlich ist es bei den nordamerikanischen Indigenen oder den Hua in Papua-Neuguinea, die bei Gender-Ethnologen als Anschauungsmaterial beliebt sind: Sie erlauben zwar den Übergang zwischen den Polen, verleugnen aber die Pole nicht.

Was wäre universal?

Wenn wir wissen wollen, ob es in der kulturellen Konstruktion von Geschlechtsidentitäten allgemeingültige Muster und Grenzen gibt - die vielleicht auf biologische Vorgaben zurückzuführen sind -, dann wäre der Königsweg dahin eine Art kulturvergleichende Suche nach Universalien. Für die Arbeitsaufteilung zwischen den Geschlechtern ist das vor bald 50 Jahren gemacht worden.

Im Überblick über 185 Kulturen zeigte sich (Zusammenfassung), dass es Tätigkeiten wie die Jagd oder die Metallbearbeitung gibt, die in keiner Kultur von Frauen ausgeübt werden, wohingegen vor allem Kochen und Textilverarbeitung meist den Frauen überlassen wird. Der Grund dafür dürfte weniger in der Körperkraft liegen als in den Erfordernissen der Kinderbetreuung. Daher löst sich diese Zuordnung in der abendländischen, städtischen Zivilisation zunehmend auf.

Solch ein unvoreingenommener Überblick über die Kulturen der Welt wäre auch wünschenswert zur Frage, wie und wie viele Geschlechtsidentitäten konstruiert werden. Denn dass etwa Menschen bei den Hua in Neu-Guinea zur Midlife-Crisis ihr soziales Geschlecht wechseln können, ist zwar ungemein weltbilderweiternd und ein sicheres Antidot gegen jede einfache Verallgemeinerung.

Für die Wissenschaft aber, deren Streben die Suche nach Regeln, Mustern und Gemeinsamkeiten ist, ist es weitgehend irrelevant. Hilfreicher wäre eine Art kultureller Universalienforschung, ähnlich wie sie in der europäischen Linguistik hypothesenfrei durch Sprachvergleich nach Regelhaftigkeiten in der Syntax sucht und dabei auf Wenn-Dann-Gesetze stößt.

Dagegen versuchte die amerikanische Linguistik im Gefolge von Noam Chomsky, aus der Kenntnis von Englisch und Spanisch - was man halt in den USA so kann - die Universalgrammatik der über 6000 Sprachen der Welt zu induzieren.

"Lehnstuhlwissenschaft" nannte man das in Europa gerne. In der Gender-Forschung scheint es eine ähnliche Form der Lehnstuhlwissenschaft zu geben, nur im Negativ: Angesichts einer Handvoll von Kulturen, die mit Geschlechtsidentitäten anders umgehen, wird das, was westliche Forscherinnen und Forscher daheim vorfinden, als einsame Ausnahme disqualifiziert. Auch darin steckt ein paradoxer Eurozentrismus, denn die soziale Definition von zwei Geschlechterrollen, die man vermutlich in der Mehrheit der Kulturen der Welt findet, wird als typisch westlich reklamiert - nur um sie unmittelbar darauf zu verwerfen.

Südamerikanische, ostasiatische, australische, geschweige denn afrikanische Geschlechtsdefinitionen spielen in der Diskussion daher keine Rolle, sofern sie nicht die Wunschbedingung erfüllen, sich von der westlichen Norm zu unterscheiden.

Die Ursache für diese Fokussierung auf die Ausnahmen könnte darin liegen, dass Genderforschung sich häufig nicht als objektive Wissenschaft versteht, sondern gesellschaftlichen Aktivismus für sich reklamiert. Politische Wirkung ist nicht nur akzeptiert, sondern sogar gewünscht. Damit stellt sich die Frage, wie Geschlecht und Geschlechterrollen politisch gesehen werden. Das ist das Thema des dritten Teils dieser Serie.

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