Was reizt die Menschen an Big Brother?

Interview mit Datenschützerin Bettina Sokol über die Individualisierung der Gesellschaft und die informationelle Selbstbestimmung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Live-Übertragung von Geburten im Internet, Webcams im Bad und im Schlafzimmer oder das "alltägliche" Leben in Containern - selbst das Privateste wird im Internet veröffentlicht. Das gesellschaftliche Verständnis von Privatheit wandelt sich rapide. Was bedeutet das für den traditionellen Datenschutz? Christiane Schulzki-Haddouti sprach mit Bettina Sokol, der Landesbeauftragten für den Datenschutz Nordrhein-Westfalen.

Gibt es angesichts der zunehmenden freiwilligen Selbstdarstellung im Internet noch Chancen und Rückhalte für den Datenschutz?

Bettina Sokol: Das ist zur Zeit eine interessante und spannende Frage. Leute installieren sich Webcams in ihre eigenen Wohnungen, damit alle Welt sie beobachten kann. Oder Menschen übertragen die Geburt ihrer Kinder live im Internet und dokumentieren das Wachstum des Babys täglich im Netz. Hier stellt sich die Frage: Wie soll sich jemand fühlen, der später feststellen muss, dass ihn die eigenen Eltern ungefragt zur öffentlichen Person gemacht haben? Was reizt die Menschen daran, das alltägliche und banale Leben im Fernsehen als Unterhaltungsshow inszeniert zu sehen? All das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen.

Das machen Sie ja auch demnächst ...

Bettina Sokol: Gemeinsam mit der Landesanstalt für Rundfunk NRW, dem WDR und dem Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht Münster veranstalte ich demnächst eine Tagung, die sich mit diesem wandelnden Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit befassen wird. Dabei geht es um Fragen wie dem Recht am eigenen Bild: Ist das ein Anachronismus im Zeitalter des Internet? Oder die informationelle Selbstbestimmung als Freiheit der Selbstentäußerung?

Haben Kinder denn zum Beispiel ein Recht am eigenen Bild?

Bettina Sokol: Selbstverständlich haben Kinder ein Recht am eigenen Bild. Was die Wahrnehmung ihrer Grundrechte anbelangt, werden sie jedoch zunächst durch ihre Eltern vertreten. Je älter sie werden, desto mehr wachsen sie in die Wahrnehmung ihrer eigenen Grundrechte hinein.

Wie können sich Kinder ihrer Rechte bewusst werden, wenn ihre Eltern freiwillig auf diese Rechte verzichten?

Bettina Sokol: Das ist auch eine Aufgabe der Schule, des sozialen Umfeldes und der Gesellschaft insgesamt: Die Menschen zur Wahrnehmung ihrer Grundrechte anzuregen.

Was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn sie zunehmend auf die Wahrnehmung ihrer Privatheit verzichtet?

Bettina Sokol: Das kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht absehen. Es ist noch gar nicht ausgemacht, ob sich die Gesellschaft in ihrem privaten Raum einschränkt oder ob es sich schlicht um ein anderes Verständnis dieser Rechte handelt. Es gibt ja zum Beispiel auch Justizentscheidungen, wonach auch Personen des öffentlichen Lebens Anspruch auf Privatheit haben. Sie können nicht Freiwild für die Presse sein. Wir haben also auf der einen Seite einen verstärkten Schutz, auf der anderen Seit womöglich ein anderes Verständnis.

Was wäre hier die Aufgabe des traditionellen Datenschützers?

Bettina Sokol: Wenn es denn stimmt, dass die Menschen zunehmend stärker für sich definieren, was sie für sich selbst als privat ansehen, dann muss der Datenschutz dem Rechnung tragen, indem er verallgemeinerungsfähige Kriterien findet, um dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen zur Durchsetzung zu verhelfen.

Verschwindet das Bedürfnis nach Privatheit?

Bettina Sokol: Ich habe schon den Eindruck, dass auch die Menschen, die ihr Leben öffentlich machen wissen, was sie für sich behalten wollen. So werden beispielsweise diejenigen, die sich in den Container von Hürth begeben haben, vorher festgelegt haben, was sie von sich preisgeben und was nicht. Das hat man auch deutlich bei den Leute nach der ersten Staffel der Serie gemerkt, als sie in Interviews zu bestimmten Situationen gesagt haben: "Jetzt ist Schluss. Jetzt ist das privat."

Werden die Datenschützer dann in eine Art Lehrerfunktion kommen, indem sie den Bürgern zeigen, auf welche Weise sie sich schützen können - wenn sie denn wollen?

Bettina Sokol: Wir stehen noch mit staunenden Augen vor all diesen Phänomenen. Als Maßstab für uns Datenschützerinnen und Datenschützer muss aber auch künftig gelten: Ist das Selbstbestimmungsrecht der Einzelnen geschützt und wie kann ich es stärken? Es kann nicht sein, dass man nun alle Mauern niederreißt und sagt: Datenschutz braucht es nicht mehr. Es kann aber auch nicht sein, dass man vorschnell bestimmte Selbstdarstellungsformen ächtet.

Werden die Zuschauer eigentlich durch solche Showformate nicht zu Voyeuren gemacht?

Bettina Sokol: Es hat schon in den 60er Jahren solche Spieleshows wie zum Beispiel "Wünsch Dir was" mit Vivi Bach und Dietmar Schönherr gegeben. Hier wurden Familienmitglieder übereinander befragt, während die anderen gerade den Kopfhörer übergesetzt bekamen. Da hat sich damals im Grunde genommen niemand etwas böses dabei gedacht. Gleichwohl ist dies eines der Formate, das den Wandel von Öffentlichkeit und Privatheit eingeläutet hat. Aber auch in den großen Samstagabendshows hat es später immer wieder Ansätze gegeben, das Privatleben der Leute zu thematisieren. Das hat jetzt in den ganzen Talkshows Ausmaße angenommen, die man einmal soziologisch, politologisch und psychologisch unter die Lupe nehmen sollte. Auch sollte man einmal überlegen und analysieren, inwieweit "Big Brother" eine logische Fortsetzung dessen ist.

Wie gehen Kinder und Jugendliche mit solchen Formaten um?

Bettina Sokol: Bei diversen Untersuchungen zu Talkshows wurde festgestellt, dass Jugendliche mit diesen Formaten durchaus umgehen können und nicht alles für bare Münze nehmen. Die einen sagen, dass die Jugendlichen die notwendige Distanz hätten, die anderen behaupten etwas anderes. Noch kann man dazu noch keine definitiven Aussagen machen. Ich glaube nur, dass die Gesellschaft darüber reflektieren muss, was zur Zeit mit ihr passiert. Es hat ganz viel mit Individualisierung, Atomisierung der Leute zu tun. Früher sind die Leute in Wohngemeinschaften gezogen, heute klicken sie sich in den Container ein - nur können sie am Küchentisch nicht mitreden.