Welch eine Freude: Schulden auf Null

Vergangene Woche brandete in Deutschland spontan Jubel auf. Eine historische Wegmarke war erreicht

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Das Bundeskabinett hatte beschlossen, im Jahr 2015 keine neuen Schulden zu machen. Fast so bejubelt wie der Einzug der deutschen Fußballmannschaft ins Halbfinale wurde an manchen Orten diese von großer Disziplin getragene Mannschaftsleistung des deutschen Kabinetts.

Ein gewisser Sigmar G. schrieb euphorisiert auf Facebook:

Heute hat das Bundeskabinett den Entwurf für den Haushalt für das Jahr 2015 beschlossen. Zum ersten Mal seit 1969 soll auf neue Schulden komplett verzichtet werden. Auch die letzte Große Koalition war schon auf diesem Weg - die weltweite Finanzkrise hat uns damals daran gehindert, das Ziel zu erreichen. Gut, dass wir es jetzt gemeinsam geschafft haben. Schuldenabbau ist ein sozialdemokratisches Ziel, weil wir hart erarbeitete Steuergelder für Bildung und Infrastruktur ausgeben wollen - und nicht für Zinszahlungen, von denen nur Banken und deren Eigentümer profitieren.

Selbst konservative Medien waren geschockt von diesem Erfolg und holten verzweifelt die ältesten Gegenargumente aus der Schublade, um der Sozialdemokratie diesen Erfolg streitig zu machen. Das Handelsblatt fragte hämisch, ob denn Schulden wirklich so böse, unmoralisch und schlecht seien, wie sie von den Sozialdemokraten dargestellt werden, freilich, ohne eine schlüssige Antwort auf diese unerhörte Frage zu finden.

Bei den Banken und deren Eigentümern herrschte kurzzeitig Weltuntergangsstimmung. Woher sollen ihre Profite kommen, wenn der Staat keine Zinsen mehr zahlt, weil er keine Schulden mehr macht? Hatten sie doch versprochen, den Sparern für viele Jahre Zinsen, wenn auch derzeit geringe, zu zahlen. Doch nach einigem Nachdenken kamen die Bankvorstände auf die Lösung des Problems. Überall zieht sich der Staat zurück, alles wird privatisiert, sagten sie sich, dann gilt das offenbar auch für die Schulden. Also müssen wir nur private Schuldner finden, denen wir das Geld der Sparer anbieten, dann wird das alte Geschäft schon wieder laufen. Also riefen sie alle Unternehmen und alle reichen Leute an, die sie kennen, und fragten, ob sie nicht neue Kredite haben wollten, denn sie hätten etliche Ersparnisse, die dringend an den Mann gebracht werden müssten, jetzt, wo der Staat dafür den Weg frei gemacht hat.

Doch wo sie auch anriefen, überall ernteten sie nur Absagen, keiner wollte das Geld haben. Die einen hatten genug eigene Mittel, die anderen wollten gerade nicht investieren und die Reichen sagten, sie wüssten ja selbst nicht wohin mit ihren Ersparnissen. Da fragten sich die Bankvorstände, ob sie denn nicht in einer Marktwirtschaft lebten. In einer Marktwirtschaft finde man doch immer für alles und jedes einen Abnehmer. Im Zweifel müsse der Preis das eben regeln. Folglich riefen sie bei der Deutschen Bundesbank und der Europäischen Zentralbank an und beklagten sich über die zu hohen Zinsen. Doch ihre Gesprächspartner schüttelten nur den Kopf. Der Zins sei ja schon fast Null, viel niedriger ginge nicht. Bei einem Zins unter Null könnten die Banken gleich zumachen, weil dann kein vernünftiger Mensch mehr sein Geld zur Bank tragen würde, sondern es lieber unter die Matratze steckte.

Da meldeten sich die Bankvorstände sofort bei Sigmar G. für ein Treffen an und fragten ihn, wie er das mit den Zinszahlungen gemeint habe. Denn es gebe derzeit ja praktische keine Zinsen, die der Staat für Kredite zahlen müsse und von denen sie, die Banken und ihre Eigentümer profitieren könnten.

Sigmar G. dachte kurz nach und belehrte die Bankvorstände dann in ernstem Ton. Er, der Bundeswirtschaftsminister und Nachfolger Ludwig Erhards, habe dafür Sorge zu tragen, dass die Marktwirtschaft funktioniere. Für etwas, das im Überfluss vorhanden sei, gebe es einfach keinen positiven Preis, das müssten alle Beteiligten endlich kapieren. Es könne nicht sein, dass der Staat die Nachfrage nach Krediten künstlich anheize, nur weil sonst niemand einen Kredit haben will. Und diejenigen, die immer neue Ersparnisse produzierten, müssten eben wissen, dass sie nichts dafür bekämen. Sparen ist doof, sagte er nicht, aber jeder, der den Ausdruck in seinem Gesicht sah, als er von den ewig gestrigen Sparern sprach, ahnte, dass er genau das meinte.

Nach einer langen Schrecksekunde, während der die Bankvorstände betreten zu Boden schauten, raffte sich einer auf und sagte zum Bundeswirtschaftsminister, er verstehe das Ganze jetzt nicht mehr. Die Leute sollten ihre hart erarbeiteten Einkommen nicht via Steuern für Zinszahlungen aufwenden, sie könnten ihre hart erarbeiteten Steuergelder aber auch auf keinen Fall zur Bank tragen, weil sie dort keine Zinsen bekämen. Wolle der Nachfolger Ludwig Erhards sagen, man brauche weder Ersparnisse noch Kredite in einer Volkswirtschaft? Woher kämen die Investitionen in Bildung und Infrastruktur, wenn jeder von der Hand in den Mund lebt und sein gesamtes Einkommen konsumiert? Oder wolle er sagen, dass die Rente sicher sei, auch wenn kein einziger Mensch Vorsorge betreibt, von dem Genossen Riester ganz zu schweigen?

Da wurde Sigmar G. ganz streng und verkündete: Die Diskussion sei beendet und sowieso unsinnig. Die Sozialdemokraten seien schon immer gegen Ersparnisse, weil sie nur den Reichen zugute kämen, die viel sparen können. Von Schulden profitierten auch nur die Reichen, also sei es gut, wenn man einfach auf beides verzichtet. Jeder müsse mit dem Geld auskommen, das er zur Verfügung hat.

In der Sekunde klingelte das Mobiltelefon des Ministers, dessen Lautsprecher dummerweise eingeschaltet war. Es war Matteo Renzi, der Genosse aus Rom. Gabriele, sagte er, gratuliere, ihr habt es geschafft. Gabriel ist sichtlich schockiert: Sollte er das Halbfinale der WM versäumt haben? Aber Renzi meint den Schuldenabbau und fragt, ob er es genauso wie Deutschland machen solle. Klar, antwortet Gabriel, keiner macht mehr Schulden in Zukunft, jeder muss jedes Jahr genau mit dem Geld auskommen, das er selbst einnimmt. Nur, wendet Matteo schüchtern ein, das klingt ja gut, aber was ist mit den 200 Milliarden Euro Leistungsbilanzüberschuss, die Deutschland Jahr für Jahr weniger ausgibt, als es einnimmt. Das, sagt Gabriel, ist nun einmal so. Bei der WM war Deutschland ja auch erfolgreicher als Italien. Es können eben nicht alle gewinnen.

Der Text wurde von der Website flassberg-economics übernommen. Heiner Flassbeck will hier versuchen, "der Volkswirtschaftslehre eine rationalere Grundlage zu geben".