Welche Presse wollen wir in der Pandemie?
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Von Pflicht und Verantwortungsethik des Journalismus in Krisenzeiten, gescheiterten Ansätzen der Corona-Politik und einer toten Ampel. Die Telepolis-Wochenrückschau mit Ausblick
Liebe Leserinnen und Leser,
der Virologe Christian Drosten hat unlängst die Rolle des Journalismus in der Corona-Pandemie thematisiert. Eine Nachbesinnung sei nicht nur in der Politik und der Wissenschaft nötig, sondern auch im Pressewesen, sagte der Mediziner der Berliner Universitätsklinik Charité bei der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises für Fernsehjournalismus in Köln. Vor allem Zuspitzungen und Personalisierungen seien problematisch, so der Virologe, der von der Wochenzeitung Die Zeit – vielleicht scherzhaft, vielleicht ein wenig ernst – einmal als "Kanzlerkandidat" angepriesen worden war.
Der Diskussion um den adäquaten Umgang mit der Pandemie haben sich in den vergangenen gut eineinhalb Jahren vorwiegend Medien wie Telepolis gestellt, die gegen alle Widerstände eine pluralistische Sicht auf das Geschehen bewahrt haben. Eine solche Haltung, für die Telepolis weiter steht, bleibt die Ausnahme, wie etwa der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl zu medialem Mehrheitstrend schreibt:
Im Herdentrieb vereint, dem Clickbaiting und den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, haben sie gleichsam über Nacht die Pandemie zum alles beherrschenden Thema gemacht.
Stephan Russ-Mohl
Dass das Ringen um die richtige Corona-Politik oft moralisch und emotional geführt wird, bemerken wir täglich im Leserforum von Telepolis. "Desktruktiv" nannte dort ein Leser unseren Bericht über eine mutmaßlich manipulierte Auftragsstudie des US-Pharmakonzerns Pfizer, weil unser Beitrag "Teile der Impfbevölkerung verunsichern" und dadurch "unsere überlebenswichtige Booster-Kampagne behindern" könnte. Ein anderer Leser schalt einen kritischen Essay über die politische und mediale Kritik an der Impfverweigerung des Fußballprofis Joshua Kimmich "unverantwortlich".
Solche Reaktionen sind nicht unüblich und unterscheiden sich im Kern nicht von den harschen Angriffen gegen "die Mainstreammedien".
Balance medialer Verantwortung
Gerade angesichts mehrfach gescheiterter Ansätze der staatlichen Pandemiepolitik - genannt seien nur der Inzidenzwert, die Misere in der Pflege im Allgemeinen und in der intensivmedizinischen Pflege im Besonderen, das Schüren offenbar überhöhter Hoffnungen in die Impfkampagne, den Umgang mit kostenfreien Tests … - stellt sich die Frage, ob sich der Journalismus, im Mainstream, alternativ oder andersgeartet, nicht auf seine ursprüngliche Rolle als kritischer Begleiter des Zeitgeschehens zurückbesinnen sollte.
Natürlich gilt es dabei die Balance zwischen Pflichtethik und Verantwortungsethik zu wahren, also dem unbeirrten Hinterfragen des Handelns Regierender und Regierter einerseits und der Abwägung gegenüber der eigenen Verantwortung andererseits. Und natürlich werden im Hinblick auf beide Prinzipien medialer Ethik Fehler begangen.
Zu denken geben müssen nicht diese alltäglichen Fehler, sofern sie kritisch bilanziert werden, sondern die Einhegung journalistischer Freiheit; wenn etwa das ZDF als öffentlich-rechtliches Medium erwägt, die beachtliche Pandemie-Serie Sløborn wegen der, nun ja, Pandemie auszusetzen – und sich letztlich zum Glück und ganz schwurbelfrei dagegen entscheidet.
Bei Telepolis jedenfalls werden Sie bei den kommenden Homeoffice-Tagen und Lockdown-Abenden weiterhin ganz unterschiedliche Standpunkte auf diese vielschichtige gesellschaftliche Krise finden. Einen Raum geben wir ausdrücklich auch kritischen Stimmen. Einige Texte hingegen lehnen wir immer wieder auch ab, wenn es objektive Gründe gegen die Publikation gibt. Das war etwa der Fall bei einem ausführlichen Beitrag zu möglichen Pharmazeutika zur Behandlung von Covid-19, der aus dem Englischen übersetzt wurde.
Der Text ist bei Telepolis nicht erscheinen, weil die empfohlene Anti-HIV-Fixkombination Lopinavir/Ritonavir sowie die Malariamittel Hydroxychloroquin und Chloroquin mit oder ohne Azithromycin keinen Benefit im Vergleich zum Standard-of-Care zeigten, der Text das aber ebenso wenig erwähnte wie Molnupiravir als antivirale Option. Angepriesen wurde hingegen Colchicin unter Verweis auf die Grecco-19-Studie vom Juli 2020, ohne aber die spätere Recovery-Studie zu erwähnen, bei der das Mittel ohne Wirkung blieb.
Solche inhaltlichen Überprüfungen laufen gemeinhin hinter den Kulissen ab und sind auch Teil unserer redaktionellen Arbeit.
2-G, die Deutsche Bahn und EU-Schnüffler
In dieser Woche werden uns viele dieser Diskussionen weiter begleiten, vor allem zum 2-G-Prinzip, das nun in Österreich flächendeckend eingeführt wurde und auch in Deutschland zunehmend Anhänger hat. Telepolis wird daher verstärkt der Frage nachgehen, inwieweit Geimpfte und Genesene noch Treiber der Pandemie sind.
Auch die Debatte um die Impfpflicht gegen Corona hat viele blinde Flecken – etwa, wenn sie mit der Masernimpfung verglichen wird, der einzigen derzeit obligatorischen Immunisierung in Deutschland oder angesichts einer erheblichen Zahl von Impfdurchbrüchen.
Befassen werden wir uns diese Woche weiterhin auch mit den deutlich ins Stocken geratenen Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP. Ob die "Ampel" schon vor Weihnachten leuchtet, ist fraglich.
Damit zusammen hängen wichtige Zukunftsfragen, die uns bei Telepolis in den vergangenen Wochen immer wieder beschäftigt haben, etwa die Ausrichtung unseres Rentensystems und des Bahnverkehrs. Zu der Forderung einer Zerschlagung der Deutschen Bahn haben wir uns in den vergangenen Tagen in gleich mehreren Beiträgen gewidmet. Das Thema hängt schließlich unmittelbar mit der Klima- und Mobilitätsfrage zusammen.
Vor einem EU-Treffen im slowenischen Brdo werden wir nochmal einen genaueren Blick auf die Pläne, private Chats und anderweitige E-Kommunikation unter dem Vorwand der Bekämpfung von Kinderpornografie automatisch zu durchleuchten. Es bleibt also spannend, auch ohne Corona.
In diesem Sinne, bleiben Sie uns gewogen, Ihr
Harald Neuber