Welche Wege führen aus der Krise?

Seite 3: Der saubere Schnitt: Die Suche nach Systemalternativen

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Ein "Green New Deal" könnte theoretisch durchaus zur Initiierung einer neuen langen Konjunkturwelle beitragen. Doch scheinen die Aussichten dieses Unterfangens aufgrund der desaströsen Finanzlage der meisten Industrieländer, der politischen Machtkonstellationen bei der Ausarbeitung der Konjunkturpakete und des allgemeinen hohen Produktivitätsniveaus der spätkapitalistischen Gesellschaften kaum noch realisierbar. Aufgrund der weit vorangeschrittenen Krisendynamik scheint es schlicht zu spät, um noch einen "Green New Deal" systemimmanent - also nur unter kapitalistischen Rahmenbedingungen - zu initiieren. Erfolgversprechender scheint da der "saubere Schnitt", also die Suche nach Systemalternativen zu sein.

Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.

Unter Berücksichtigung dieses berühmten Marx-Zitates müssen wir bei unserer Suche nach Alternativen zu bestehenden Gesellschaftunordnung zuerst bei uns selber ansetzen. Die Frage einer Gesellschaftsalternative ist zu allererst eine Bewusstseinsfrage: Welche gesellschaftlichen Phänomene nehmen wir als Teil der kapitalistischen Gesellschaftsformation wahr, welche Gesellschaftsstrukturen gelten hingegen als - angeblich unabänderliche - Äußerungen der menschlichen Natur? Wo fangen überhaupt Alternativen zum Kapitalismus an? Bei Konjunkturprogrammen, Verstaatlichung, Planwirtschaft?

Das Problem bei der Erörterung dieser Fragestellung besteht freilich darin, dass die kapitalistische Ideologie seit der Entstehung des Kapitalismus in der frühen Neuzeit den Anspruch erhebt, eine natürliche Gesellschaftsformationen zu legitimieren, die dem menschlichen Wesen entspricht. Dieser Grundgedanke der kapitalistischen Apologetik wird uns permanent durch das tausendfache mediale Dauerbombardement der Kulturindustrie eingetrichtert, bis den meisten Menschen selbst die Fähigkeit abhanden kommt, auch nur Alternativen zu denken. Der Kapitalismus nimmt für sich in Anspruch, einem Naturgesetz gleich zu sein - obwohl selbstverständlich der überwiegende Teil der menschlichen Geschichte sich in nichtkapitalistischen Gesellschaftsformationen vollzog. Die Verheerungen, die der Konkurrenzzwang und das allgegenwärtige Rattenrennen dem Bewusstsein der kapitalistischen Subjekte zufügt, werden in Umkehrung der kausalen Zusammenhänge als das "Wesen" schlechthin des Menschen dargestellt.

De facto sind die gesellschaftlichen Zustände zur stummen Voraussetzung, zum Fundament jedweder verkümmerten Denkbewegung geworden. Die grundlegenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung erlangen also den Anschein von eigenständigen Naturgesetzen, sodass der herrschenden Ideologie ein Gedanke an eine Alternative zum Kapitalismus ähnlich abstrus erscheint, wie die Idee einer alternativen Physik. Rezession, Aufschwung oder Börsenkrach erscheinen den verblendeten Menschen als ein ewiger Naturkreislauf, ähnlich Naturphänomenen wie Ebbe und Flut, Sonnenschein oder Gewitter. Dabei sind die über uns herrschenden gesellschaftlichen Strukturen, wie auch die hieraus resultierende Krisendynamik, selbstverständlich nur Produkte menschlicher Tätigkeit - und dennoch stehen sie uns als eine Fremde, quasi naturwüchsige und objektive Macht gegenüber, die unser aller Leben fremdbestimmt.

Bei der Lösung dieses Mysteriums hilft nur der besagte radikale Bewusstseinschnitt. Zuerst ist selbstverständlich der Fernseher aus dem Fenster zu befördern. Das sieht nicht nur toll aus, es macht auch den Kopf frei von all dem medialen Unrat, der in endloser Verdopplung der Oberfläche der Realität jeglichen Gedanken an ein anderes Leben abtötet. Hiernach gilt es, Distanz zu unserer Gesellschaftsformation zu gewinnen und diese gerade nicht als etwas Selbstverständliches wahrzunehmen. Bei einer solchen Entfremdung gegenüber der entfremdenden Gesellschaft, die gerade die gesamte medial vermittelte Ideologie bewusst ignoriert, kommt die Absurdität des spätkapitalistischen Systems voll zu Geltung. Dieser gedankliche "saubere Schnitt" hat nichts mit Ideologie zu tun. Es ist eigentlich die vernünftigste Vorgehensweise, angesichts einer kollabierenden kapitalistischen Gesellschaftsovation sich auf die Suche nach Systemalternativen zu begeben.

Ohne das mediale Trommelfeuer der Ideologie wirken die einfachsten Oberflächenerscheinungen unserer Gesellschaft keineswegs natürlich - sie blamieren sich hingegen an den eigenen, vom Kapitalismus aufgestellten, Rationalitätskriterien. Absurd ist schon der Charakter der derzeitigen Weltwirtschaftskrise. Hunger, Verelendung und soziale Marginalisierung nehmen nicht etwa deswegen zu, weil es zu wenig Lebensmittel oder sonstige Waren gäbe, wie es in den historischen Perioden vor der Durchsetzung des Kapitalismus war. Es verhält sich gerade umgekehrt: Weil die Produktivität unserer Industrie in immer höhere Höhen getrieben wird, weil immer weniger Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr Güter und Waren herstellen können, steigt die Arbeitslosigkeit, explodieren Armut und Massenelend. Wir leben in einer Gesellschaftsformation, die auf der einen Seite riesige Halden an unverkäuflichen Gütern ausspeit, und auf der anderen Seite immer mehr Menschen marginalisiert und diese beiden extremen Phänomene - Massenelend und massenhafte Überproduktion - nicht in Übereinstimmung bringen kann.

Es geht noch abartiger: Beispielsweise erhielt die amerikanische Stadt Cleveland 41 Millionen US-Dollar aus dem US-Konjunkturpaket, um über 1000 "verlassene" Häuser abzureißen, deren ehemalige Besitzer die Reihen der US-Obdachlosen weiter anschwellen lassen. In der stummen "Naturalisierung" und Legitimierung dieser schlicht perversen, elementar widernatürlichen gesellschaftlichen Verhältnisse liegt vielleicht die größte Leistung der kapitalistischen Massenideologie. Diese lässt ja bekanntlich die gesamte menschliche Gesellschaft zu einem Anhängsel der Kapitalakkumulation verkommen. Jedwede ökonomische Tätigkeit hat der kapitalistischen Binnenlogik zufolge nur dann eine Berechtigung, wenn sie der Vermehrung des eingesetzten Kapitals gilt. Das gesamte Leben, ja die Welt als solche sinkt so zu einem lästigen Durchgangsstadium der endlosen Kapitalvermehrung herab.

Befreit von diesem ideologischen Ballast der vergangenen Jahrzehnten scheint eine vernünftige Organisierung unserer Gesellschaft jenseits der krisengeschüttelten Kapitalverwertung plötzlich sehr einfach. Bei dem gegebenen Produktionsniveau könnten alle Gesellschaftsmitglieder in einer sehr viel kürzeren Zeit die zur Reproduktion der Gesellschaft notwendige Arbeit vernichten. Die Arbeitszeit würde umso rascher sinken, je mehr der überflüssigen Wirtschaftssektoren wegfielen, die eigentlich nur dazu da sind, um von der Kulturindustrie künstlich erzeugte Bedürfnisse aufrecht zu erhalten und zu stimulieren, wie etwa die Werbewirtschaft. In einer Gesellschaft, die nicht mehr als bloßes Anhängsel dar Kapitalakkumulation ihr Dasein fristet, würde die derzeitige "Krise der Arbeitsgesellschaft" in eine massenhafte und weitgehende Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit transformiert. Der beständig vorangetriebene Fortschritt der Produktivkräfte würde nicht mehr Elend und Massenarbeitslosigkeit hervorbringen, sondern zu einer Ausweitung der freien Zeit aller Gesellschaftsmitglieder führen.

Dennoch scheint es sich hierbei um etwas Einfaches zu handeln, das sehr schwer zu machen ist. Der erste große Anlauf zur Errichtung einer alternativen Gesellschaft ist ja gescheitert. In der Tat müsste eine erneute Suche nach einer Alternative zum kapitalistischen System die Erfahrungen des bis 1989 "real existierenden" Sozialismus berücksichtigen. Auch hierbei liegt die Stoßrichtung auf der Hand: Es geht vor allem darum, die Fehler und Verwerfungen, die dieses System prägten, künftig zu vermeiden. Eine Alternative zum kapitalistischen System müsste im 21. Jahrhundert anders aussehen, als die von einer zentralistischen Planwirtschaft geprägte Sowjetunion. Im Endeffekt ist es wohl immer noch das Scheitern des autoritären, real existierenden Sozialismus, das viele Menschen davon abhält, Alternativen zum Kapitalismus zu denken. Tief in ihren Eingeweiden spüren wohl auch die fanatischsten Befürworter des Neoliberalismus, dass es so nicht mehr weitergehen kann - und dennoch verdeckt die Implosion des Ostblocks vor zwei Dekaden immer noch den Blick auf Systemalternativen.