Welche Wege führen aus der Krise?

Hat der Kapitalismus noch eine Chance oder müssen wir uns auf die Suche nach Alternativen begeben?

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Die Einschläge kommen näher. Mussten bisher vor allem Länder der Peripherie der Europäischen Union - wie etwa Ungarn, Rumänien oder Lettland - mittels milliardenschwerer Hilfspakete des IWF, der Weltbank und der EU vor dem Staatsbankrott bewahrt werden, so droht erstmals mit Griechenland einem Land der Eurozone die Zahlungsunfähigkeit. Als weitere Pleitekandidaten werden inzwischen die Euroländer Portugal und Spanien gehandelt. Auch Kernländer des kapitalistischen Systems stöhnen unter einer ungeheuren Schuldenlast und verschulden sich in einem aberwitzigen Tempo. Die Staatsverschuldung Japans, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, beträgt längst mehr als 200 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Großbritannien (Staat, Wirtschaft und Verbraucher) hat bereits einen Schuldenberg von nahezu 500 % seines BIP angehäuft. Die staatliche US-Schuldenaufnahme soll in diesem Jahr mit 1,6 Billionen US-Dollar einen neuen Allzeitrekord aufstellen. Es ist absolut offensichtlich, dass diese rasant fortschreitende Verschuldungsorgie der meisten Industriestaaten nicht mehr lange aufrechterhalten werden kann. Inzwischen drohen Ratingagenturen damit, selbst den USA und Großbritannien ihre erstklassige Bonitätsbewertung abzuerkennen.

Als die - seit Jahrzehnten schwelende! - Krise mit der Pleite von Lehman Brothers manifest wurde, da taumelten die Finanzmärkte am Abgrund. Nun geraten etliche Industriestaaten in finanzielle Schieflage, gerade weil sie mittels umfangreicher Konjunkturprogramme und billionenschwerer Rettungsmaßnahmen für den Finanzsektor den wirtschaftlichen Totalabsturz in 2009 verhindern konnten. Wie kann dieser nun erneut an Dynamik gewinnende Krisenprozess verzögert oder gar aufgehalten und schließlich überwunden werden? Gibt es Auswege aus dieser Krise? Können diese systemimmanent - also im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise - beschritten werden, oder müssen wir uns auf die Suche nach Alternativen begeben?

Um diesen Fragestellungen adäquat nachgehen zu können, ist ein klares Verständnis der gegenwärtigen Krise erforderlich. Erst dank einer bündigen und klaren "Krisendiagnose" könnten eventuelle Auswege aus der Krise diskutiert, aufgezeigt und beschritten werden.

Kurze Krisendiagnose: It's the economy, stupid

Die gegenwärtige Systemkrise des kapitalistischen Systems äußert sich vor allem als eine Schuldenkrise. Die wichtigsten Industriestaaten haben seit dem Zusammenbruch der US-Immobilienblase die Defizitkonjunktur verstaatlicht, die vormals durch eine ausartende private Verschuldung auf den wuchernden Finanzmärkten angeheizt wurde.

Seit Beginn der achtziger Jahre - also seit dem Sieg des Neoliberalismus - wuchsen die amerikanischen und später globalen Finanzmärkte explosionsartig an, zugleich beschleunigte sich vor allem in den USA die private Kreditaufnahme, die zu einer tragenden Säule des dortigen, konsumgetriebenen Wachstums wurde. Eine auf solcherart (staatlicher oder privater) Defizitbildung beruhende Konjunktur wird als Defizitkonjunktur bezeichnet.

Es scheint somit, dass der Kapitalismus seit einigen Jahrzehnten ohne Schuldenbildung nicht mehr funktionieren kann. Entweder vollzieht sich dieser Prozess über die Finanzmärkte, wodurch es zum Zusammenbruch der US-Immobilienblase kam, oder die Staaten müssen einspringen und Vermittels staatlicher Defizitbildung die notwendige Nachfrage generieren, wie es aktuell der Fall ist. Der Kapitalismus scheint somit zu einem unrentablen Zuschussgeschäft verkommen zu sein, dessen Reproduktion nur noch durch (staatliche oder private) Schuldenmacherei aufrechterhalten werden kann.

Der gegenwärtig zusammenbrechende finanzmarktgetriebene Kapitalismus entstand als Reaktion auf die fundamentale Krise der siebziger Jahre, als der lange Nachkriegsboom in nahezu allen Industrieländern zum Erliegen kam und die Weltwirtschaft in eine lange Phase der Stagflation - einer ausartenden Inflation mitsamt ökonomischer Stagnation - eintrat. Die Deregulierung der Finanzmärkte seit den achtziger Jahren und deren beständiges Wachstum waren also eine Reaktion auf einen Krisenprozess der warenproduzierenden Industrie. Hiermit konnte tatsächlich neue - wenn auch nur kreditfinanzierte - Nachfrage geschaffen werden. Dieses gigantische Schneeballsystem, das zuletzt durch die Spekulation auf dem US-Immobilienmarkt angetrieben wurde, brach im Gefolge der Pleite von Lehman Brothers zusammen.

Was ließ also die Industriestaaten nach der langen Aufschwungsphase in dem Goldenen Zeitalter des Kapitalismus in die Krisenperiode der Stagflation eintreten? Salopp gesagt war es die dem Kapitalismus innewohnende, konkurrenzgetriebene Tendenz zur beständigen Produktivitätssteigerung. Der Kapitalismus ist schlicht zu produktiv für sich selbst geworden, weswegen wir uns seit Jahrzehnten mit der Krise unserer Arbeitsgesellschaft konfrontiert sehen, deren systemische Ursachen von der veröffentlichten Meinung verbissen ignoriert werden. Je offensichtlicher die ihre Produktionspotentiale beständig steigernde Wirtschaft nicht mehr in der Lage ist, auch nur annähernd Vollbeschäftigung herzustellen, desto verbissener hält die öffentliche Debatte am Ziel der Vollbeschäftigung fest - und sei es durch Billiglohn und Zwangsarbeit.

Um diesen Komplex zu verdeutlichen, lohnt ein näherer Blick auf die vom sowjetischen Ökonomen Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew begründete Theorie der "langen Konjunkturwellen", für die der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter 1938 den Begriff der Kondratjew-Zyklen formte. Hierbei handelt es sich um einen jahrzehntelangen konjunkturellen Metazyklus, der von neu entstandenen Schlüsselindustrien getragen wird, die neue Felder der Kapitalverwertung und Massenbeschäftigung kreieren. Einer Periode des Aufschwungs folgt eine Zeit des Abschwungs, in der Produktivitätssteigerungen und Marktsättigung die Profitrate und Massenbeschäftigung in diesen neuen Schlüsselindustrien wieder sinken lassen. Seit Anbeginn der Industrialisierung hätten wir es also mit Metazyklen zu tun, die jeweils auf dem Ausbau der Textilindustrie und später der Schwerindustrie, der Elektrobranche oder der Chemieindustrie zurückzuführen sind. Sobald durch fortschreitende technische Entwicklung die Massenbeschäftigung in einem älteren Sektor nachließ, entstanden durch denselben wissenschaftlich-technischen Fortschritt neue Industriezweige, die die "überschüssige" Arbeitskraft aufnahmen.

Systemkrisen treten dann ein, wenn die von einem bestimmten Industriezweig generierte Massenbeschäftigung aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen abflaut, während sich noch keine neuen Beschäftigungsfelder in neuartigen Industrien aufgetan haben. Genau diese Entwicklung setzte seit den siebziger Jahren in allen Industrieländern ein, als die von der Massenmotorisierung getragene, sehr lange Konjunkturwelle der Nachkriegszeit abflaute und sich keine neuen Schlüsselindustrien für eine weitere lange Konjunkturwelle entwickelten.

Dieser Befund mag auf den ersten Blick stutzig machen, da in den achtziger Jahren mit der Mikroelektronik und der Informationstechnologie weitere Industriezweige entstanden, die selbstverständlich auch Arbeitsplätze generierten und Investitionsmöglichkeiten für das Kapital schufen. Dennoch fungieren diese Sektoren gerade nicht als "Schlüsselindustrien" im Sinne Kondratjews. Diese schaffen ja vor allem dadurch Investitions- und massenhafte Beschäftigungsmöglichkeiten, indem sie in Wechselwirkung mit anderen Industriezweigen treten und dort ebenfalls stimulierend und belebend werden. Sehr gut kann man das am Aufbau des Eisenbahnnetzes im späten 19. Jahrhundert oder an der Massenmotorisierung der Nachkriegszeit erkennen, die vielfältigste ökonomische Impulse zeitigten.

Auch die mikroelektronische Revolution der 1980er Jahre wirkte sich auf die gesamte Ökonomie aus, doch dies vor allem mittels massenhaften Abbaus von Arbeitsplätzen: Durch Rationalisierungs- und Automatisierungsmaßnahmen werden große Teile der klassischen Industriearbeiterschaft schlicht überflüssig. Die Rechnung ging diesmal nicht auf. In den neuen Hightechbranchen entstehen weit weniger Arbeitsplätze, als in den "alten" Industrien obsolet werden. Dem Massenheer der Industriearbeiterschaft folgt keines aus Programmierern, Informatikern oder Webdesignern. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, der - konkrrenzvermittelt - durch den Kapitalismus befördert wird, untergräbt zugleich die kapitalistische Produktionsweise.

Für die betroffenen Industrieländer ergaben sich bei der Krisenbewältigung zwei Optionen: Entweder, sie setzten gnadenlos auf die Exportwirtschaft, wie Deutschland, China und Japan, oder sie bildeten eine Defizitkonjunktur aus, die über einen wuchernden Finanzsektor die massenhafte Kreditaufnahme und somit auch Nachfrage erzeugte (vor allem USA, aber auch Großbritannien, Spanien, Irland und weite Teile der osteuropäischen Peripherie der EU).

Das Fazit unserer Krisendiagnose lautet folglich: Es ist der stürmisch vom Kapitalismus vorangetriebene Fortschritt der Produktivkräfte, der die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise unterminiert. Die Krise hat ihre Ursache nicht im Finanzsektor, sondern in den Widersprüchen der warenproduzierenden Industrie. Gerade das exzessive Wuchern der Finanzmärkte hat die unter einer latenten Überproduktion leidende reale Wirtschaft durch schuldengenerierte Nachfrage am Leben gehalten. Nachdem diese ungefähr über 30 Jahre beständig wuchernde Spekulations- und Verschuldungsdynamik zusammenbrach, drohte die reale Wirtschaft, das von reaktionären Kapitalismuskritikern fetischisierte "schaffende Kapital", an seinen eigenen Widersprüchen zu kollabieren. Hier mussten die Staaten als ein letzter Trumpf der kapitalistischen Krisenpolitik einspringen und diese Defizitkonjunktur "verstaatlichen". Die kreditgenerierte Nachfrage würde sonst zusammenbrechen, und die ungeheuren Produktionskapazitäten der Industrie führen dann in einer verhängnisvollen Abwärtsspirale zu immer neuen Massenentlassungen, welche die Massennachfrage immer weiter reduzieren und erneute Entlassungswellen auslösten.

Der systemimmanente Therapieversuch: Eine neue Schlüsselindustrie muss her!

Wollte der Mensch tatsächlich in die Rolle des berühmten "Arztes am Krankenbett des Kapitalismus" schlüpfen, so hätte nur eine Therapie - wenn auch bescheidenste - Aussichten auf Erfolg. Nur das Aufkommen einer neuen Schlüsselindustrie, die massenhaft Beschäftigung generiert und Möglichkeiten zur Kapitalverwertung eröffnet, könnte die derzeitige Krisendynamik durchbrechen und zur vorläufigen Stabilisierung der Reproduktion der avancierten kapitalistischen Gesellschaftsformationen beitragen. Die gesamtgesellschaftliche Anwendung dieser neuen Schlüsseltechnologie dürfte gerade nicht vermittels massiver Rationalisierungsschübe zum weiteren Abbau von Arbeitsplätzen führen, wie bei der Mikroelektronik und der Informationstechnologie, sondern sie müsste durch zusätzliche Nachfrage stimulierend auf andere Sektoren wirken. Dieser Zusammenhang wird - wenn auch ideologisch verzerrt - ebenfalls in den Massenmedien wahrgenommen:

Die US-Wirtschaft könnte sicher ein Next Big Thing gebrauchen. Etwas in den Ausmaßen der Eisenbahn, des Automobils oder des Internet - die Art von Durchbruch, der immer wieder auftaucht und Industrien schafft, Arbeitsplätze generiert und Vermögen schafft.

Innerhalb der amerikanischen Regierung gibt es auch zaghafte Pläne, ein solches "Großes Ding" ausgerechnet auf dem "Ground Zero" der im Abstieg befindlichen Automobilindustrie, in der ehemaligen Autostadt Detroit, zu initiieren:

Präsident Obama hat einen Plan: Die Krisengegend um Detroit, wo der Untergang der Auto-Riesen eine Trümmerlandschaft hinterlassen hat, soll zum Zentrum der alternativen Energiegewinnung werden. Fabriken, in denen einst Wagen vom Fließband rollten, sollen Windmühlenflügel und Solarzellen herstellen.

Neben der Entstehung massenhafter Arbeitsplätze bei der Kapitalverwertung und den belebenden gesamtwirtschaftlichen Effekten müsste ein solcher neuer Leitsektor der Ökonomie mit dem Aufbau einer gänzlich neuen Infrastruktur einhergehen. Dies ist auch einer der Gründe, wieso die Autoherstellung bis in die Siebzigerjahre hinein in nahezu allen Industrieländern die Rolle einer solchen Schlüsselposition in der Wirtschaft einnahm. Mit der Automobilmachung (Robert Kurz) unserer Gesellschaft ging ein umfassender infrastruktureller Umbau der kapitalistischen Volkswirtschaften einher: vom Zupflastern ganzer Landstriche mit Autobahnen über den Aufbau eines Händler-, Werkstatt- und Tankstellennetzes bis hin zur Schaffung augedehnter Parkplatzwüsten in unseren Städten.

Die einzige derzeit in einem "embryonalen" Stadium befindliche Technologiegruppe, die als eine künftige Schlüsselindustrie zum Träger einer langen Konjunkturwelle im Sinne Kondratjews avancieren könnte, bilden die unterschiedlichen Formen alternativer und regenerativer Energiegewinnung. Bei einer forciert betriebenen konsequenten Umstellung der energetischen Basis der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften würde tatsächlich ebenfalls ein umfassender Umbau und Aufbau einer neueren Infrastruktur im Energiesektor stattfinden, der - selbst bei dem derzeitigen Stand der Produktivität - ein enormes Beschäftigungspotenzial birgt.

Auf den ersten Blick scheinen sich also alle jene politischen Kräfte durchaus im recht zu befinden, die gerade im angelsächsischen Raum in Anlehnung an den New Deal des US-Präsidenten Roosevelt einen "Green New Deal" fordern, in dessen Rahmen mittels staatlicher Subventionen und Konjunkturprogramme die Herausbildung eines solchen neuen Industriesektors alternativer und regenerativer Energien gefördert werden soll.

Und hier liegt genau der Knackpunkt dieser Krisenstrategie des Green New Deal. Ein solcher Aufbau und Umbau der Infrastruktur des Energiesektors müsste größtenteils aus Steuermitteln gestartet werden, da dies nicht im Rahmen gewöhnlicher Kapitalakkumulation vonstatten gehen kann. Auch während des "Goldenen Zeitalters des Kapitalismus" in den 1950er und 1960er Jahren waren es die Staaten, die dank sprudelnder Einnahmen aus der boomenden Wirtschaft den infrastrukturellen Aufbau der Verkehrssysteme finanziell bewältigen konnten.

In der derzeitigen Krisensituation entschieden sich aber die meisten Regierungen dafür, die bereits bestehenden und aufgrund enormer Produktivitätssteigerungen und gesättigter Märkte in ihrer gesamtökonomischen Relevanz abnehmenden Industriezweige - hier vor allem die Automobilindustrie - zu subventionieren. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft stellte fest, dass die Weltwirtschaftskrise gerade dazu diene, einen solchen grünen Strukturwandel der Ökonomie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben:

Auch die in den weltweit aufgelegten Konjunkturpaketen enthaltenen Maßnahmen mit klimapolitischer Stoßrichtung tragen nicht nennenswert zur Senkung der Treibhausgasemissionen bei... Die Krise dient als Vorwand für den Verzicht auf einen "grünen" Strukturwandel und vermindert selbst in der EU die Zahlungsbereitschaft für einen globalen Klimafonds.

Die berüchtigte deutsche Abwrackprämie, bei der fahrtüchtige Fahrzeuge verschrottet wurden, um unter enormen Energieaufwand neue PKWs herstellen und subventioniert verkaufen zu können, wurde zu einem neuen deutschen Exportschlager, der in vielen weiteren Ländern zur Anwendung gelangte. Diese Industrie erstickt aber geradezu an gesättigten Märkten und beständig steigender Produktivität, wie Dietmar H. Lamparter am 16.10.2008 in der Zeit erläuterte:

Die Crux an der Situation: Selbst wenn die deutschen Hersteller die Verkäufe ihrer Fahrzeuge konstant halten können, wächst mit jedem neuen Modell der Druck auf die Arbeitsplätze. Die Produktivität beim Wechsel von Golf V auf Golf VI sei in Wolfsburg um mehr als 10 Prozent und in Zwickau sogar um mehr als 15 Prozent gestiegen, verriet ein stolzer VW-Chef Winterkorn bei der Präsentation der Neuauflage des wichtigsten Konzernfahrzeugs. Das bedeutet, dass für die Montage der gleichen Zahl von Autos 15 Prozent weniger Leute nötig sind. Wenn also vom Golf VI nicht entsprechend mehr abgesetzt wird, sind Jobs in Gefahr. Genauso läuft es bei neuen Modellen von BMW, Mercedes oder Opel. Teilweise werden dort Produktivitätssprünge von 20 Prozent erzielt.

Die Politik entschied sich für eine Subventionierung dieser bestehenden, im Niedergang befindlichen Industrien aus einem schlichten Grund: Die entsprechenden Konzerne und Unternehmen verfügen über genügend Einfluss, um ihre Interessen durch Lobbytätigkeit durchzusetzen. Es liegt in der "Natur" des kapitalistischen Politikbetriebs, dass Industriezweige, die erst im Entstehen sind, über solche Einflussmöglichkeiten auf die Politik nicht verfügen. Wie die um sich greifende Krise der Staatsfinanzen unter Beweis stellt, haben die meisten Regierungen der Industrieländer ihr konjunkturelles Pulver bereits verschossen - die globale Neuverschuldung, die allein aufgrund der diversen Konjunkturpakete entstand, wird auf nahezu 5 % der globalen Wirtschaftsleistung veranschlagt.

Ein weiteres umfassendes Konjunkturprogramm können sich die meisten ohnehin finanziell in Schieflage geratenen Staaten schlicht nicht mehr leisten. Denkbar wäre höchstens eine massive Erhöhung von Vermögens- oder Reichensteuern, mittels derer weitere Finanzmittel mobilisiert werden könnten. Allein schon die Rücknahme der unter "Rot-Grün" an Unternehmen und Spitzenverdiener verteilten Steuergeschenke würde einen zweistelligen Milliardenbetrag jährlich zusätzlich in die Kassen von Bund und Ländern spülen. Doch diese Option wird in der veröffentlichten Meinung nicht mal ansatzweise diskutiert.

Nicht nur die machtpolitischen Konstellationen stehen aber einem "Green New Deal" im Wege. Es ist auch klar, dass bei der Produktion der alternativen Energiequellen niemals solch hohe Beschäftigungseffekte erzielt werden können, wie sie im Zuge der Automobilmachung des Kapitalismus in den Fünfzigern oder 60 Jahren erzielt werden konnten. Solarzellen und Windkrafträder werden effizient nicht in der Art und Weise produziert, wie Autos vor 40 Jahren, als Tausende von Proleten im Schweiße ihres Angesichts auf endlosen Montagebändern in genau festgelegten Zeitintervallen stupide Handgriffe tätigten, um nach Hunderten von Arbeitsschritten - die je ein Arbeiter ausführte - ein Fahrzeug herzustellen. Bei dem heutigen allgemeinen Stand der Automatisierung der Produktion gelten tendenziell auch für die Herstellung alternativer Energiequellen ähnliche Probleme der "Überproduktivität", wie sie oben von Dietmar H. Lamparter im Fall der Automobilindustrie geschildert wurden.

Der saubere Schnitt: Die Suche nach Systemalternativen

Ein "Green New Deal" könnte theoretisch durchaus zur Initiierung einer neuen langen Konjunkturwelle beitragen. Doch scheinen die Aussichten dieses Unterfangens aufgrund der desaströsen Finanzlage der meisten Industrieländer, der politischen Machtkonstellationen bei der Ausarbeitung der Konjunkturpakete und des allgemeinen hohen Produktivitätsniveaus der spätkapitalistischen Gesellschaften kaum noch realisierbar. Aufgrund der weit vorangeschrittenen Krisendynamik scheint es schlicht zu spät, um noch einen "Green New Deal" systemimmanent - also nur unter kapitalistischen Rahmenbedingungen - zu initiieren. Erfolgversprechender scheint da der "saubere Schnitt", also die Suche nach Systemalternativen zu sein.

Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.

Unter Berücksichtigung dieses berühmten Marx-Zitates müssen wir bei unserer Suche nach Alternativen zu bestehenden Gesellschaftunordnung zuerst bei uns selber ansetzen. Die Frage einer Gesellschaftsalternative ist zu allererst eine Bewusstseinsfrage: Welche gesellschaftlichen Phänomene nehmen wir als Teil der kapitalistischen Gesellschaftsformation wahr, welche Gesellschaftsstrukturen gelten hingegen als - angeblich unabänderliche - Äußerungen der menschlichen Natur? Wo fangen überhaupt Alternativen zum Kapitalismus an? Bei Konjunkturprogrammen, Verstaatlichung, Planwirtschaft?

Das Problem bei der Erörterung dieser Fragestellung besteht freilich darin, dass die kapitalistische Ideologie seit der Entstehung des Kapitalismus in der frühen Neuzeit den Anspruch erhebt, eine natürliche Gesellschaftsformationen zu legitimieren, die dem menschlichen Wesen entspricht. Dieser Grundgedanke der kapitalistischen Apologetik wird uns permanent durch das tausendfache mediale Dauerbombardement der Kulturindustrie eingetrichtert, bis den meisten Menschen selbst die Fähigkeit abhanden kommt, auch nur Alternativen zu denken. Der Kapitalismus nimmt für sich in Anspruch, einem Naturgesetz gleich zu sein - obwohl selbstverständlich der überwiegende Teil der menschlichen Geschichte sich in nichtkapitalistischen Gesellschaftsformationen vollzog. Die Verheerungen, die der Konkurrenzzwang und das allgegenwärtige Rattenrennen dem Bewusstsein der kapitalistischen Subjekte zufügt, werden in Umkehrung der kausalen Zusammenhänge als das "Wesen" schlechthin des Menschen dargestellt.

De facto sind die gesellschaftlichen Zustände zur stummen Voraussetzung, zum Fundament jedweder verkümmerten Denkbewegung geworden. Die grundlegenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung erlangen also den Anschein von eigenständigen Naturgesetzen, sodass der herrschenden Ideologie ein Gedanke an eine Alternative zum Kapitalismus ähnlich abstrus erscheint, wie die Idee einer alternativen Physik. Rezession, Aufschwung oder Börsenkrach erscheinen den verblendeten Menschen als ein ewiger Naturkreislauf, ähnlich Naturphänomenen wie Ebbe und Flut, Sonnenschein oder Gewitter. Dabei sind die über uns herrschenden gesellschaftlichen Strukturen, wie auch die hieraus resultierende Krisendynamik, selbstverständlich nur Produkte menschlicher Tätigkeit - und dennoch stehen sie uns als eine Fremde, quasi naturwüchsige und objektive Macht gegenüber, die unser aller Leben fremdbestimmt.

Bei der Lösung dieses Mysteriums hilft nur der besagte radikale Bewusstseinschnitt. Zuerst ist selbstverständlich der Fernseher aus dem Fenster zu befördern. Das sieht nicht nur toll aus, es macht auch den Kopf frei von all dem medialen Unrat, der in endloser Verdopplung der Oberfläche der Realität jeglichen Gedanken an ein anderes Leben abtötet. Hiernach gilt es, Distanz zu unserer Gesellschaftsformation zu gewinnen und diese gerade nicht als etwas Selbstverständliches wahrzunehmen. Bei einer solchen Entfremdung gegenüber der entfremdenden Gesellschaft, die gerade die gesamte medial vermittelte Ideologie bewusst ignoriert, kommt die Absurdität des spätkapitalistischen Systems voll zu Geltung. Dieser gedankliche "saubere Schnitt" hat nichts mit Ideologie zu tun. Es ist eigentlich die vernünftigste Vorgehensweise, angesichts einer kollabierenden kapitalistischen Gesellschaftsovation sich auf die Suche nach Systemalternativen zu begeben.

Ohne das mediale Trommelfeuer der Ideologie wirken die einfachsten Oberflächenerscheinungen unserer Gesellschaft keineswegs natürlich - sie blamieren sich hingegen an den eigenen, vom Kapitalismus aufgestellten, Rationalitätskriterien. Absurd ist schon der Charakter der derzeitigen Weltwirtschaftskrise. Hunger, Verelendung und soziale Marginalisierung nehmen nicht etwa deswegen zu, weil es zu wenig Lebensmittel oder sonstige Waren gäbe, wie es in den historischen Perioden vor der Durchsetzung des Kapitalismus war. Es verhält sich gerade umgekehrt: Weil die Produktivität unserer Industrie in immer höhere Höhen getrieben wird, weil immer weniger Menschen in immer kürzerer Zeit immer mehr Güter und Waren herstellen können, steigt die Arbeitslosigkeit, explodieren Armut und Massenelend. Wir leben in einer Gesellschaftsformation, die auf der einen Seite riesige Halden an unverkäuflichen Gütern ausspeit, und auf der anderen Seite immer mehr Menschen marginalisiert und diese beiden extremen Phänomene - Massenelend und massenhafte Überproduktion - nicht in Übereinstimmung bringen kann.

Es geht noch abartiger: Beispielsweise erhielt die amerikanische Stadt Cleveland 41 Millionen US-Dollar aus dem US-Konjunkturpaket, um über 1000 "verlassene" Häuser abzureißen, deren ehemalige Besitzer die Reihen der US-Obdachlosen weiter anschwellen lassen. In der stummen "Naturalisierung" und Legitimierung dieser schlicht perversen, elementar widernatürlichen gesellschaftlichen Verhältnisse liegt vielleicht die größte Leistung der kapitalistischen Massenideologie. Diese lässt ja bekanntlich die gesamte menschliche Gesellschaft zu einem Anhängsel der Kapitalakkumulation verkommen. Jedwede ökonomische Tätigkeit hat der kapitalistischen Binnenlogik zufolge nur dann eine Berechtigung, wenn sie der Vermehrung des eingesetzten Kapitals gilt. Das gesamte Leben, ja die Welt als solche sinkt so zu einem lästigen Durchgangsstadium der endlosen Kapitalvermehrung herab.

Befreit von diesem ideologischen Ballast der vergangenen Jahrzehnten scheint eine vernünftige Organisierung unserer Gesellschaft jenseits der krisengeschüttelten Kapitalverwertung plötzlich sehr einfach. Bei dem gegebenen Produktionsniveau könnten alle Gesellschaftsmitglieder in einer sehr viel kürzeren Zeit die zur Reproduktion der Gesellschaft notwendige Arbeit vernichten. Die Arbeitszeit würde umso rascher sinken, je mehr der überflüssigen Wirtschaftssektoren wegfielen, die eigentlich nur dazu da sind, um von der Kulturindustrie künstlich erzeugte Bedürfnisse aufrecht zu erhalten und zu stimulieren, wie etwa die Werbewirtschaft. In einer Gesellschaft, die nicht mehr als bloßes Anhängsel dar Kapitalakkumulation ihr Dasein fristet, würde die derzeitige "Krise der Arbeitsgesellschaft" in eine massenhafte und weitgehende Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit transformiert. Der beständig vorangetriebene Fortschritt der Produktivkräfte würde nicht mehr Elend und Massenarbeitslosigkeit hervorbringen, sondern zu einer Ausweitung der freien Zeit aller Gesellschaftsmitglieder führen.

Dennoch scheint es sich hierbei um etwas Einfaches zu handeln, das sehr schwer zu machen ist. Der erste große Anlauf zur Errichtung einer alternativen Gesellschaft ist ja gescheitert. In der Tat müsste eine erneute Suche nach einer Alternative zum kapitalistischen System die Erfahrungen des bis 1989 "real existierenden" Sozialismus berücksichtigen. Auch hierbei liegt die Stoßrichtung auf der Hand: Es geht vor allem darum, die Fehler und Verwerfungen, die dieses System prägten, künftig zu vermeiden. Eine Alternative zum kapitalistischen System müsste im 21. Jahrhundert anders aussehen, als die von einer zentralistischen Planwirtschaft geprägte Sowjetunion. Im Endeffekt ist es wohl immer noch das Scheitern des autoritären, real existierenden Sozialismus, das viele Menschen davon abhält, Alternativen zum Kapitalismus zu denken. Tief in ihren Eingeweiden spüren wohl auch die fanatischsten Befürworter des Neoliberalismus, dass es so nicht mehr weitergehen kann - und dennoch verdeckt die Implosion des Ostblocks vor zwei Dekaden immer noch den Blick auf Systemalternativen.

Von Marx-Maschinen, Commons und einer Partizipativen Ökonomie

Es muss also etwas "Neues" her, das den Realitäten des frühen 21. Jahrhunderts gerecht wird. Interessant ist vielleicht ein Ansatz, der bereits in den avancierten Sektoren der kapitalistischen Ökonomie "Keimformen" einer neueren Gesellschaftsstruktur auszumachen versucht. Hierbei scheint eine Analogie zur historischen Durchsetzung des Kapitalismus auf, dessen privatwirtschaftliche Eigentumsverhältnisse ja zuerst in der feudal strukturierten englischen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert durch Bruch der Allmenderechte während der sogenannten Einhegungen konstituiert wurden. Möglich wurde diese unter Rechtsbruch durchgesetzte Kommerzialisierung der Landwirtschaft, die als Vorstufe der Industrialisierung fungierte, natürlich erst in Wechselwirkung mit vielfältigen technisch-wissenschaftlichen Fortschritten in der Produktion.

Könnte es nun sein, dass sich auch im Schoß unserer spätkapitalistischen Gesellschaft Formen und Momente einer - wie auch immer zu bezeichnenden - postkapitalistischen Gesellschaft konstituieren? Oekonux stellt sicherlich das älteste Projekt dar, das solche Ansätze einer neuen Gesellschaftsformation innerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaftszweige zu benennen versucht. Das 1999 aus der Taufe gehobener Netzwerk gab sich seinen Namen aus der Verschmelzung der Worte Ökonomie und GNU/Linux. Der Name ist hier Programm: die technischen Innovationen der mikroelektronischen und informationstechnologischen Revolution liefern die technische Grundlage, die Produktionsprinzipien der freien Software das neue Organisationsprinzip, nachdem der Kapitalismus dereinst von der Peer-Economy abgelöst werden soll. In einer solchen Wirtschaftsweise, die auf der freiwilligen Kooperation von und dem freien Tausch unter gleichrangigen Menschen (Peers) beruhen soll, würde die Produktionsweise von Open-Source-Projekten eine gesamtgesellschaftliche Verallgemeinerung erfahren. Stefan Merten, der Maintainer des Oekonux-Netzwerkes, fasste die zentrale These dieses Zusammenhangs folgendermaßen zusammen:

So wie die physikalischen Erkenntnisse und mechanischen Erfindungen der Aufklärung Voraussetzung für die Entwicklung des Kapitalismus waren, so ist die Entwicklung von Computern und universeller Fernkopiereinrichtungen - auch bekannt als Internet - Voraussetzung für Peer Production.

Stefan Merten

Die durch Mikroelektronik und Informationstechnologie spätestens seit den 1980ern ausgelöste Revolution der gesamten kapitalistischen Produktion würde demnach einen ambivalenten Charakter aufweisen: Einerseits befördern die immer weiter vorangetriebenen Innovationsschübe die Krise der Arbeitsgesellschaft, da aufgrund der Produktivitätssteigerungen innerhalb der Warenproduktion immer weniger Arbeitskräfte benötigt werden. Andererseits sind es genau diese den Kapitalismus tendenziell destabilisierenden Innovationswellen, die den Weg für gesellschaftliche Alternativen freimachen.

Dennoch bleibt der fundamentale Einwand berechtigt, dass die Prinzipien einer "Open-Source-Ökonomie" (Teilen statt Tauschen, Kontrolle über die Produktionsmittel statt Fremdbestimmung, freiwillige Kooperation statt Lohnarbeit) bislang nur bei der Produktion immaterieller Güter zur Anwendung gelangen konnten. Ob es nun Software (Firefox, Open Office) oder Wissen (Wikipedia) ist, stets sind die so hergestellten Güter sehr einfach zu teilen und zu distributieren, da deren Vervielfältigung kaum Kosten verursacht. Anders sieht es hingegen bei materiellen Gütern, bei reellen Gebrauchsgegenständen aus. Hier scheint das Open-Source-Prinzip an seine Grenzen zu stoßen, da mir beispielsweise die "quellenoffene" Bauanleitung eines Fahrzeugs oder Handys nichts nützt, wenn ich nicht in der Lage bin, diese selber herzustellen und mir die hierfür notwendigen Rohstoffe fehlen.

Die Ausweitung des Open-Source-Prinzips auf die reale Warenproduktion, die Etablierung der genannten Peer-Ökonomie, scheint also daran zu scheitern, dass uns die notwendigen Produktionsmittel fehlen, mittels derer wir die unter Open-Source-Prinzipien konzipierten Gebrauchsgegenstände in Eigenregie herstellen würden.

Wie überführt man die digitalen Baupläne für diverse Dinge in eine körperliche Form? Zukünftig könnte das durch persönliche Ding-Maschinen geschehen. Etliche Open-Source-Projekte haben sich die Weiterentwicklung von sogenannten 3D-Druckern zum Ziel gesetzt, die den Anwender in die Lage versetzen sollen, ohne große Vorkenntnisse Gebrauchsgegenstände herstellen zu können. Hierbei handelt es sich im Endeffekt um kleine Fabriken. Diese auch als Fabber bezeichneten Geräte sollen ähnlich unseren derzeitigen Druckern auf jedem Schreibtisch Platz haben und allerhand nützliche Dinge "ausdrucken". Dies geschieht durch einen in allen drei Raumachsen frei beweglichen Druckknopf, der dünne Schichten verschiedener Materialien herauspressen und anordnen kann. Zumeist operieren die von Projekten wie RepRap, Makerbot oder Fab@Home konzipierten Fabber mit geschmolzenen Plastik. Noch seien es vergleichsweise einfache Dinge, die von diesen Miniaturfabriken ausgedruckt werden können, bemerkte der "Elektronische Reporter" in äußerst sehenswerten Kurzreportage, doch sei es inzwischen Forschern unter Laborbedingungen gelungen, auch "elektronische Schaltkreise, Touchscreens oder auch Solarzellen" auszudrucken.

Selbst auf den gegenwärtigen Stand der Fabber-Technik lassen sich aber schon solch tolle und nützliche Dinge wie beispielsweise Bananenschnecken, Salzstreuer oder Zahnpastatubenausdrücker herstellen. Auf der Internetpräsenz Thingiverse werden bereits die freien Baupläne für all jene Gebrauchsgegenstände zur Verfügung gestellt, die nicht mehr Waren sind. Diese "Marx-Maschinen" würden laut dem elektronischen Reporter eigentlich eine uralte Forderung der kommunistischen Bewegung erfüllen: "Produktionsmittel in die Hände des Volkes". Adrian Bowyer, der Initiator des RepRap Projekts, spekulierte bereits über die ökonomischen Auswirkungen einer breiten Durchsetzung von Fabbern:

Wenn RepRap Erfolgreich sein sollte, wird eine Reihe von Veränderungen in der Gesellschaft stattfinden. Die wichtigste Veränderung wird die Distribution betreffen. Im Moment ist es sinnvoll, Waren in Fabriken herzustellen und diese dann mittels eines komplizierten Transportsystems zu den Menschen zu befördern, die diese Waren haben möchten. Wenn RepRap durchstartet, seine Fähigkeiten dank Evolution erweitert und immer mehr Waren zuhause hergestellt werden können, dann werden die Menschen nicht mehr so sehr auf Fabriken angewiesen sein. Wenn sie etwas haben wollen, wird es eine Frage des Downloads aus dem Web sein, wie es heute bei Filmen und Musik der Fall ist. Und dieser Download wird sie in die Lage versetzen, das Objekt herzustellen.

Adrian Bowyer

Selbstverständlich kann nicht die gesamte Reproduktion unserer Gesellschaft vermittels solcher kleinen persönlichen Fabriken erfolgen. Die Rohstoffproduktion wie auch deren Distribution müssen gesamtgesellschaftlich, ja eventuell sogar global gestaltet werden. Einer näheren Beschäftigung dürften hier vor allem alternative Wirtschaftskonzepte wie die der Partizipativen Ökonomie wert sein, die auf eine grundlegende Demokratisierung der Wirtschaft abziehen. Michael Albert, einer der wichtigsten Förderer dieses auch als Parecon bezeichneten demokratischen Wirtschaftskonzepts, erläuterte dessen Grundgedanken auf einer Konferenz in Helsinki im April 2009:

Partizipative Ökonomie will den Menschen die Kontrolle über ihr Leben geben. Sie will den Arbeitern auf der Arbeit und uns allen als Konsumenten Mitsprache geben in den ökonomischen Entscheidungen und Prozessen, die uns alle betreffen. Der Umfang unserer Mitsprache sollte proportional zu dem Ausmaß sein, mit dem wir von bestimmten Prozessen betroffen sind. Es sollte nicht so sein, dass irgendwelche Menschen einer Art Monopol auf Kontrolle haben und die meisten von uns nur Zuschauer unseres eigenen Lebens sind.

Michael Albert

Wir sollen also nicht mehr zu bloßen Objekten der Kapitalbewegung und blinder "Marktkräfte" degradiert werden, die schon mal bei Massenentlassungen tausendfach ihrer sozialen Existenz beraubt werden können, sondern unser aller Leben bewusst gestallten können - vor allem unsere Reproduktion, also die Wirtschaft. Letztendlich geht es darum, die weiter oben beschriebenen, blind ablaufenden Prozess der marktvermittelten Kapitalverwertung durch bewusste, demokratische Kontrolle zu ersetzen. Der Mensch würde seine Gesellschaft - wie auch sein persönliches Leben - nicht mehr als von blinden Kräften dominiert begreifen, sondern in die Lage versetzt, diese bewusst zu gestalten. Der ideologische Schleier, wonach die Gesellschaft ein naturwüchsiges Eigenleben besitzt (das sich in ökonomischen Erschütterungen wie beispielsweise Rezessionen manifestiert) und wir alle diesem ausgesetzt sind, würde verschwinden. Dies kann nur durch Teilnahme an den ökonomischen Entscheidungsprozessen und der Ausgestaltung der Wirtschaftsstrukturen, also durch Partizipation, erreicht werden.

Im Endeffekt ist ja gerade jedes Unternehmen im Kapitalismus eine kleine Diktatur, in der die Angestellten für acht Stunden schlicht zu Befehlsempfängern degradiert werden. Eine demokratische Umgestaltung der Entscheidungsprozesse auf betriebswirtschaftlicher bis volkswirtschaftlicher Ebene, gepaart mit einer radikalen Senkung der Arbeitszeit, würde auch die gesamte Standortdebatte obsolet machen, die derzeit immer wieder gegen Forderungen von Lohnabhängigen in Stellung gebracht wird. Ein unter demokratischer Kontrolle seiner Belegschaft stehender Betrieb wird nicht nach China oder Mexiko verlagert werden. Die Teilung der Macht über die Produktionsmittel unter möglichst viele Menschen würde auch der Herausbildung einer neuen Kaste von Machtträgern entgegenwirken, wie sie beispielsweise im Real Existierenden Sozialismus mit der Nomenklatura bestand. Bei einer Demokratisierung der Wirtschaft würde im Endeffekt eine Verschiebung der Tätigkeitsfelder stattfinden: Die radikale Arbeitszeitverkürzung würde mit einem Mehraufwand für kollektive Planung, Diskussion und Koordinierung von Produktionsprozessen einhergehen.

Schließlich müssten auch die Ressourcen, Energieträger und Rohstoffe in eine Eigentumsordnung überführt werden, die einer nachhaltigen Wirtschaftsweise gerecht werden würde. Hier lohnt unter Umständen - ebenfalls in Unterschied zum bloßen Staatsbesitz - eine Wiederbelebung des Konzepts der öffentlich verwalteten Allgemeingüter einer eingehenden Diskussion. Im Endeffekt würde damit der Rechtsbruch rückgängig gemacht, der zur Konstituierung des Privateigentums an Grund und Boden zu Beginn der kapitalistischen Produktionsweise führte. Zum Thema wurden jüngst etliche Bücher, z.B. Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Wem gehört die Welt Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter!), veröffentlicht. Zudem hat der Nobelpreis für Ökonomie für die Commons-Forscherin Elinor Ostrom das Thema einer breiteren Öffentlichkeit vertraut gemacht. Der österreichische Standard bemerkt hierzu:

Ostroms Arbeiten fallen tatsächlich aus dem Rahmen. Die zentrale Frage, mit der sie sich beschäftigt, ist, wie Gemeinschaftsgüter, etwa Gewässer und Wälder, am effizientesten bewirtschaftet werden können. Originär ist dabei ihre Antwort: Weder der Staat noch der freie Markt sind die Lösung. Kleine, gut organisierte Gemeinschaften sind oft am produktivsten. Für diese Erkenntnis untersuchte Ostrom Fischereikollektive auf den Philippinen und die Waldbewirtschaftung in Kamerun. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.

Der Standard

Es stellt sich natürlich die Frage, wieso nur Wälder und Gewässer und nicht auch Energieträger und Rohstoffe in Allgemeingüter überführt werden, die dann von "gut organisierten Gemeinschaften" produktiver verwaltet werden.

Zu guter Letzt eröffnet uns der wissenschaftlich-technische Fortschritt neuartige Möglichkeiten, die Durchführbarkeit solcher Systemalternativen zu erforschen. Wie wäre es - statt in "Second Life" den öden Alltag nochmals mit erträumten Prestigeobjekten konformistisch nachzuspielen - mit der Simulation eines "Another Life", in der schon mal virtuell die Gangbarkeit der einen oder anderen Systemalternative zu ergründen wäre?

Ansätze und Ideen zu einem anderen Leben gibt es bereits viele (siehe z.B. W. Paul Cockshott/Allin Cottrell: Alternativen aus dem Rechner). Es dürfte mehr als einen Exit aus dem Kapitalismus geben, und vielleicht muss man sich auf Streifzüge durch die Alternativen einlassen, um diese in aller Ruhe zu ergründen. Und jeder, der einen vorgefertigten Weg, einen verordneten Plan, eine strikte Führung und eine Führungsperson hierbei für notwendig hält, hat sich bereits verlaufen.

Schließlich muss auch der anfangs aufgezeigte systeminterne Weg zur Überwindung der gegenwärtigen Systemkrise nicht im Kapitalismus verbleiben. Allein aufgrund einer stark dezentralisierten - eher demokratische Eigentumsverhältnisse begünstigenden - Produktionsstruktur in einem potentiellen, unter massivem Einsatz von Solar- und Windkraft zu errichtenden regenerativen Energiesektor könnte die Marktherrschaft einiger weniger, ein Oligopol bildender Konzerne kaum aufrechterhalten werden. Mit tausenden Windkraftanlagen und hunderttausenden Solarmodulen würde praktisch jeder, der über eine geeignete Fläche verfügt, zum Stromproduzenten. Genauso wie jeder, der über einen Fabber verfügt, sein eigener kleiner Fabrikant wäre.

Dies ist ja zumindest den Energiekonzernen durchaus bewusst. Alle von der Energiewirtschaft ins Spiel gebrachten Initiativen zum Aufbau regenerativer Energieerzeugung basieren auf großen und zentralisierten Projekten, wie Windparks in der Nordsee oder Sonnenkraftwerken in Nordafrika. Auch in der Energiebranche ist die Kontrolle über große, zentralisierte Portionskapazitäten gleichbedeutend mit einer Zentralisierung von Macht.

Was tun also? Kurzfristig ist sicherlich für eine radikale Absenkung der Arbeitszeit, ein garantiertes bedingungsloses Grundeinkommen und eine Demokratisierung der Ökonomie zumindest auf europäischer Ebene zu kämpfen. Vielleicht könnte hieraus eine breite emanzipatorische Bewegung erwachsen, wie sie schon der Sozialphilosoph André Gorz umriss:

Das Ziel einer Gesellschaft, in der ein(e) jede(r) weniger arbeitet, damit alle Arbeit finden und besser leben können, wird somit heute zu einem der wichtigsten Faktoren des Zusammenhalts der Gewerkschaft und der Erneuerung sozialer Freiheitsbewegungen.

Mensch darf sich aber auch keinen Illusionen hingeben, dass sich dieser Wandel selbstständig und ohne eine bewusste politische Bewegung - etwa durch den eigengesetzlichen "Gang der Dinge" - realisieren würde. Um eine Systemalternative muss gerungen, ja gekämpft werden. Sie muss gegen die Widerstände derjenigen Gruppen durchgesetzt werden, die am Status quo blendend verdienten und von ihrer Macht auch bei dessen Zusammenbruch nicht lassen wollen. Auch die Herrschenden nehmen inzwischen wahr, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Der massive Druck und die Hetze auf die Ärmsten der Armen, ist eine Reaktion darauf und soll letztendlich zur Herausbildung einer Kaste von entrechteten und verarmten Tagelöhnern beitragen, die mittels Löhnen unter dem Existenzminimum de facto in Zwangsarbeit genötigt werden, um so erneut auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Der renommierte Krisentheoretiker Robert Kurz zeichnete den logischen Endpunkt dieser Entwicklung vor:

Vorige Woche legte der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz nach, indem er als Ergänzung eine forcierte kommunale Zwangsarbeit für die lästigen Überflüssigen ins Spiel brachte. Die Weisheit besteht offenbar darin, dass "Lohn und Brot" als gezielte Schaffung einer Kaste von Leibeigenen der Arbeitsverwaltung und der Halsabschneider-Klitschen verstanden wird. Wenn es im Knast besseres Essen gibt, als es sich Millionen von "arbeitenden Armen" leisten können, hofft man "gestärkt aus der Krise" hervorgegangen zu sein - falls der Weltmarkt nicht einen Strich durch die weisheitstriefende Rechnung macht.

Robert Kurz

Bei einem Kollaps der kapitalistischen Produktionsweise droht die "indirekte", durch den Arbeitsmarkt vermittelte Form der Ausbeutung (die Lohnarbeit) wieder durch direkte Abhängigkeits- und Zwangsverhältnisse ersetzt zu werden. Man könnte diesen Prozess als eine Art Refeudalisierung bezeichnen, in dessen Verlauf sich immer mehr Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt herausfallen, in einer Klasse von Leibeigenen wiederfinden, deren physisches Überleben nur dann garantiert wird, wenn sie ihrer Arbeitspflicht nachkommen.

Nach einigen "mutigen Reformen" dieses Zwangsarbeitssystems - in denen die eine oder andere Privatisierung durchgeführt wird - könnten sich diese Zwangsarbeiter auch unter der Verfügungsgewalt privater Organisationen oder Personen wiederfinden. Sollte kein breiter Widerstand der Bevölkerung gegen solche Krisenlösungen seitens der Herrschenden zustande kommen, werden keine neuen Wege bei der Krisenbewältigung beschritten, dann würden sich mittelfristig solche Zwangsstrukturen durchsetzen. Sie sind schließlich nicht ohne historische Vorbilder.