Wenig Chancen für künftiges Familienleben
Seite 3: Erwerbsarbeit
In den im Rückblick oft als "goldene Jahre" verklärten Nachkriegsjahrzehnten, also den 1950er, 1960er und 1970er Jahren, war Erwerbsarbeit tatsächlich anders. Viele Menschen blieben ein Arbeitsleben lang bei einem Arbeitgeber, vielleicht einmal ein Wechsel, um sich persönlich zu verbessern - das war es schon. In den letzten Jahren, hat sich das zusehends verändert.
Abgesehen vielleicht von der großen Metallindustrie oder staatlichen Einrichtungen, sind Arbeitnehmer in die Lebenszyklen ihrer Arbeitgeber eingepresst, die dazu passende persönliche Dynamik wird eingefordert. Anpassung, hohe Mobilität ist vorausgesetzt und Wettbewerbsfähigkeit wird erwartet. Stabilität war gestern, heute wird dauernd ausprobiert (Praktika), probegeleistet, befristet und die Betroffenen sind verpflichtet, auch in ihren Arbeitsplatz zu investieren und sich permanent weiterzubilden.
Man muss heute öfter den Arbeitsplatz und den Arbeitsort wechseln, um sein Geld zu verdienen, also man darf sich oft bewerben und dabei gut verkaufen, wird genötigt, flexibel zu sein. Dazu kommt, dass die Verfügbarkeit der Menschen nicht nur während der Arbeitszeit, sondern ebenso in der Freizeit erwartet wird, wobei viele diese Erwartung gern und freiwillig vorwegnehmen. Für dringende Dinge auch am Sonntag bereit stehen, Fragen ebenso im Urlaub per Smart Phone beantworten, das ist an vielen Arbeitsplätzen zur Selbstverständlichkeit geworden; die Betroffenen interpretieren dies oft als Anerkennung und Bestätigung ihrer subjektiven Bedeutsamkeit und sehen das damit nicht so sehr als lästige Eingriffe. Tiefenpsychologisch ließe sich das als willfährige, sozusagen selbstverständliche Identifikation mit dem Aggressor verstehen.
Schauspielende Kleinunternehmer
Anders als früher, wo Arbeitnehmer nur während der Arbeitszeit folgsam zu funktionieren hatten, ist der moderne Erwerbsarbeiter heute eher ein Unternehmer seines Arbeitskraftverkaufs. Inklusive der notwendigen Eigenwerbung, der Selbstdarstellung seiner Fähigkeiten, die da wären: wettbewerbsfreudig, anpassungsfähig, flexibel, teamfähig, Kollegen, Vorgesetzte und Kunden wertschätzend und achtend, stressresistent, wenn geht mehrsprachig und natürlich mit dem Computer vertraut. Dazu kreativ, optimistisch, unternehmensidentifiziert und für jeden von oben verordneten neuen Teambuilding-Blödsinn begeisterungsfähig.
Ein Blick in Stellenausschreibungen zeigt, wie sich heutige Personalmanager die moderne Berufsarbeitswirklichkeit vorstellen: sklaven- oder roboterähnlich, aber dennoch mit hoher Eigeninitiative und immer irgendwie verlogen. Natürlich wird bei Bewerbungen geschwindelt und selbstüberhöht, bei Assessment-Center-Situationen mutieren Menschen zu rigorosen Schauspielern. Überhaupt ist die Erwerbsarbeit eine Art von Bühne: Menschen legen sich Rollen für das Erwerbsleben zurecht, die sie im Privaten mitunter zum Kotzen finden.
Aber beim zähen langen Marsch durch das Erwerbsarbeitsleben korrodiert diese Differenzierung langsam und unmerklich, man hat sich meist damit arrangiert, dass die Welt so ist, wie sie eben ist. Und je älter einer wird, desto kleiner werden der persönliche Widerstand und die Veränderungsbereitschaft. Das wissen alle.