Wenige Neandertaler
Eine Erbgut-Analyse zeigt, dass wenige Neandertaler in einem riesigen Gebiet lebten und alle relativ eng miteinander verwandt waren
Mehr als hunderttausend Jahre lang lebte der Neandertaler bereits in Europa, als unsere Vorfahren hier zuwanderten. Mindestens 10.000 Jahre lang bevölkerten die beiden Menscharten gleichzeitig den Kontinent. Aber der Früheuropäer war seltener als bislang angenommen. Eine neue Studie zeigt, dass es nur 7.000 Individuen gab – vielleicht der ausschlaggebende Grund, warum er am Ende sang- und klanglos aus der Geschichte abtrat.
Sie waren dem modernen Menschen sehr ähnlich – und doch ganz anders. Als vor mehr als 150 Jahren zum ersten Mal im Neandertal unweit von Düsseldorf seltsame Knochen aus der Erde geborgen wurden, hielt man sie zuerst für Überreste eines kranken Menschen unserer Art, der vor langer Zeit dort verstarb. Erst langsam wurde klar, dass es sich wirklich um eine andere Menschenart handelte, der nach seinem Fundort Neandertaler, bzw. Homo neanderthalensis genannt wurde (vgl. Neanderthal-Museum).
Ein rätselhaftes Wesen, das sich lokal aus dem Homo erectus entwickelte und in Europa, dem Nahen Osten und Asien lebte. Er sah dem anatomisch modernen Menschen, dem Homo sapiens, sehr ähnlich, die Anthropologen pflegen zu sagen, dass er mit Jeans und T-Shirt bekleidet in einer modernen Großstadt nicht auffallen würde. Und doch war es sehr verschieden von uns.
Der Neandertaler war ein wenig kleiner und deutlich kräftiger gebaut als wir. Seine Knochen waren dicker, seine Muskeln ausgeprägter. Beim Armdrücken hätte er sicherlich immer gewonnen. Sein Schädel war lang gezogen, die Wülste über den Augen ausgeprägt, die Stirn niedrig, die Nase groß und breit, der Kiefer massiv. Dieser Früheuropäer trotzte hervorragend der großen Kälte seines Lebensraums und mindestens 120.000 Jahre war er der Alleinherrscher in seinen Gebieten. Er jagte, ernährte sich fast ausschließlich von Fleisch und machte bis zur Ankunft des modernen Menschen vor ca. 40.000 Jahren kaum technische Fortschritte.
Er kommunizierte über Sprache, baute sich Hütten, stellte ausgefeilte Werkzeuge und Kleidung her und kochte sich sogar einen speziellen Kleber aus Birkenpech. Inwieweit der Neandertaler eine eigene Kultur entwickelte, darüber wird noch gestritten, sehr wahrscheinlich bemalte er seinen Körper, zumindest einzelne Sippen bestatteten ihre Toten – aber alle steinzeitlichen Funde aus dem Aurignacien, die ersten Skulpturen, Höhlenmalerei oder frühe Musikinstrumente werden dem Homo sapiens zugeschrieben.
Wenige Individuen, wenig Genvielfalt und viel Raum
Unsere Vorfahren (mit dem Neandertaler sind wir nicht direkt verwandet, vgl. Sex ja, Kinder nein) trafen vor ungefähr 40.000 Jahren aus Afrika kommend in Europa ein. Und mindestens 10.000 Jahre lang lebten die Neandertaler parallel mit Homo sapiens in dieser Region. Vor 25.000-30.000 verliert sich zuletzt die Spur des Homo neanderthalensis in Südspanien (vgl. Letzte Zuflucht Gibraltar).
Aber warum starb er aus? Warum gehört er nicht zu unseren Vorfahren, sondern stellt einen toten Zweig im menschlichen Stammbaum dar? Viel ist darüber spekuliert worden – in kriegerischen Auseinandersetzungen ausgerottet haben ihn unsere Vorfahren mit Sicherheit nicht, selbst wenn es vereinzelt zu Tötungen oder sogar Kannibalismus gekommen sein mag (vgl. Einverleibung). Längst sind sich die Experten darüber einig, dass sie sich Homo neanderthalensis und Homo sapiens nur selten begegnet sind. Ihre Lebensart war verschieden und Europa nur sehr dünn besiedelt.
Viele neue Erkenntnisse bringen seit Neuestem die Untersuchungen des Erbguts unseres ausgestorbenen Onkels. Seit einigen Jahren entziffern die Spezialisten eines internationalen Konsortiums unter Führung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig sein Genom. Eine enorme Aufgabe, die erst mit dem technischen Fortschritt der jüngsten Zeit möglich wurde, denn DNS zersetzt sich mit der Zeit und die aus den uralten Knochen gewonnenen Bruchstücke müssen in mühevoller Puzzlearbeit wieder zusammen gesetzt werden.
Zugleich ist es nötig, die durch den Verwesungsprozess entstandenen Verunreinigen wie Erbgutspuren von Pilzen und Bakterien zu erkennen und auszumerzen. Die als echt verifizierte DNS wird dann rekonstruiert und ergänzt. Schon 2006 meldeten die Wissenschaftler den ersten großen Erfolg, eine Million Basenpaare der Zellkern-DNS eines Homo neanderthalensis waren entschlüsselt (vgl. The Neandertal Genome Project). Es folgten Rückschläge durch Kontamination der Proben mit DNS modernen Menschen, aber bis nächstes Jahr hoffen die Forscher das gesamte Genom dechiffriert zu haben.
Bereits vergangenes Jahr hatten die Resultate der Gen-Untersuchungen darauf hingewiesen, dass die Neandertaler-Population vor 40.000 Jahren sehr viel kleiner war, als vorher angenommen (vgl. Neandertaler in der Sackgasse). Eine These, die sich jetzt bestätigt. In der aktuellen Ausgabe des Magazins Science veröffentlicht das internationale Team um Adrian W. Briggs vom Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie jetzt ihre Analyse der über die Mütter vererbten mitochondrialen DNS.
Die Wissenschaftler untersuchten das entsprechende Erbgut von sechs Neandertalern aus weit gestreuten Fundstellen von der El Sidron-Grotte in Spanien, über das Neandertal und die Vindija-Höhle in Kroatien bis zur Mezmaiskaya-Höhle in Russland. Die Fossilien waren zwischen 38.000 und 70.000 Jahre alt.
Zur Verblüffung der Experten erwiesen sich alle jüngeren Individuen als eng miteinander verwandt. Zwei Proben ähnelten sich so sehr, dass die Anthropologen zunächst an einen Mess-Fehler vermuteten. Aber es war keiner. Wahrscheinlich war die gesamte Bevölkerung an Neandertalern schon lange vor der Ankunft des Homo Sapiens einmal so stark reduziert, dass sich aus wenigen Vorfahren erneut eine größere Population entwickelte. Und vermutlich war Homo neanderthalensis überhaupt sehr mobil, ein Nomade mit ausgeprägtem Wanderverhalten.
Die genetischen Unterschiede zwischen den untersuchten Neandertalern waren insgesamt um ein Drittel geringer als die zwischen heutigen modernen Menschen. Die Analyse erlaubte es dem Team die Bevölkerungszahl hoch zu rechnen und sie kamen auf maximal 7.000 Individuen, die vor ca. 40.000 Jahren lebten und sich tatsächlich zu dem Zeitpunkt fortpflanzten. Es muss über lange Zeit so gewesen sein: Wenige Neandertaler in einem riesigen Gebiet – und alle relativ eng miteinander verwandt.
Das bietet einen neuen Erklärungsansatz, warum sie letztlich ausstarben. Klimawandel, Nahrungsmangel, Krankheiten und der Wettbewerb mit unseren Vorfahren waren für Homo neanderthalensis nicht nur individuell lebensbedrohlich, die gesamte Population geriet schnell unter existenziellen Druck. Vielleicht war es am Ende nur eine Grippewelle, der die letzten ihrer Art zum Opfer fielen.