Wenn Netrebko singt, sollte Makejew schweigen

Seite 2: Moral und Ethik sind universell

Es wird ethisch und moralisch argumentiert: Russland hat die Ukraine überfallen, im Krieg sterben Menschen, auch Zivilisten. Das ist natürlich richtig und zu verurteilen. Aber Moral und Ethik sind universell oder sie sind gar nicht. Deshalb müssen derart begründete Positionen einem Vergleich standhalten.

Im März 2003 erklärte Hans Magnus Enzensberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine "triumphale Freude" über den Angriffskrieg der USA gegen den Irak, der zum Sturz Saddam Husseins führte. Es irritiere ihn zutiefst, "dass so viele Deutsche der Rhetorik des ‚Appeasement‘ anhängen, als hätten sie nie unter einem totalitären Regime gelebt".

Auch der ungarische Schriftsteller György Konrád verteidigte den Angriff auf den Irak. Als Europäer sei er "daran interessiert, dass es weniger Diktaturen auf der Welt gibt. Deshalb ist uns die aufgefrischte antiimperialistische Propaganda (...) nicht sympathisch".

Während Bomben auf Bagdad fielen, schrieb der damalige Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegel, Hellmuth Karasek, er könne nicht einsehen, "warum jemand, der die Argumente Tony Blairs für überzeugender und ‚richtiger‘ hält als die (Gerhard) Schröders, ein Kriegstreiber sein soll".

Karasek holte weit aus, um den Bruch des Völkerrechts durch die USA, Großbritannien und andere zu legitimieren: "Napoleon wurde in Deutschland trotz seiner Überfallskriege als Befreier empfunden". Äpfel-und-Birnen-Vergleiche sind nichts dagegen.

Die medizinische Fachzeitschrift Lancet schätzt übrigens, dass allein von März 2003 bis Juli 2006 rund 655.000 Zivilisten infolge des US-Angriffs auf den Irak starben, Opinion Research Business geht von 1,033 Millionen Toten von März 2003 bis August 2007 aus, eine PLOS Medicine Studie kommt auf 405.000 Tote von März 2003 bis Juni 2011.

Weder Konrád noch Enzensberger oder Karasek folgten der damaligen Position, es gab keine nennenswerte Empörung oder gar Boykottaufrufe.

Wieder auf der Seite der Guten

Sind die Kampagnen gegen russische Künstler heute auch massenpsychologisch so zu erklären? Je fanatischer wir gegen sie wettern, je heftiger wir ihre Bestrafung fordern, desto weniger müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, welche Mitschuld wir auf uns geladen haben.

Ein Indiz dafür haben wir hier schon früher angeführt: "Putler"-Plakate auf Ukraine-Demonstrationen, Bilder, auf denen das Konterfei des deutschen Diktators über das des russischen Präsidenten gelegt wird.

Das sagt: Endlich, Generationen, nachdem unsere Väter, Großväter und inzwischen Urgroßväter am blutigsten Vernichtungskrieg der Neuzeit teilgenommen haben, stehen wir auf der Seite der Guten.

Das ist ein gutes Gefühl. Allein, es nützt nichts. Denn während wir uns mit Netrebko und der Staatsoper beschäftigen, geht der Krieg weiter, sterben Menschen, scheitern EU-Sanktionen, gibt es keinen neuen Getreidedeal, verhungern Unschuldige in anderen Teilen der Welt, verseucht DU-Munition das Kriegsland, werden Familien getrennt, Männer an die Front gezwungen.

Es gäbe viel zu diskutieren. Netrebkos Gesang gehört nicht dazu.

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