Wenn bestimmte Stadtbewohner unsichtbar werden

Seite 3: Istanbul: Projekte vom Reißbrett gegen Stadtbewohner

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Und das sichtbare Wirken ist die Form, mit der StadtbürgerInnen (bisher) eine wichtige Funktion im komplexen System Stadt einnahmen, folgt man Saskia Sassens Ausführung ("Does the city have speech?"). So definiert sie für die sprechende Stadt: "Eine erhellendere Form des Sprechens ist das Erwirken von Präsenz... Es geht um die Möglichkeit, präsent zu werden, wo Abwesenheit und Stille herrschen." Von bestimmten Schichten muss die Präsenz zunehmend (zurück)erkämpft werden. Besonders, wenn städtisches Potential zum Schweigen gebracht wird mit der Ausweitung von Luxusgebieten und Armutszonen. In Istanbul und landesweit in türkischen Städten ist das bei Stadtumstrukturierungen der Fall. "Deurbanisierung" kam auf der ganzen Linie seit den 2000-er Jahren und der zentralen Aufsicht der Wohnungsbaupolitik durch die staatliche TOKI-Behörde des Premierministers Tayyeb Recep Erdogan.

Aber die politischen Verfechter des totalumfassenden Baubooms sprechen dabei von Zukunftsfähigkeit und Europäisierung. Wie Yasar Adnan Adali in "Istanbul brennt" http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/07/12.mondeText.artikel,a0034.idx,8 in der Le Monde Diplomatique (Juli 2013) berichtete, setzte die AKP-Regierung seit ihrem Regierungsantritt 2002 auf Mega-Investitionen und gewaltige Projekte als maßgebliche Konjunkturrettung des Landes. Sie intensivierte dabei die neoliberale Politik, mit der schon seit 1980 Immobilien für Spekulationsgeschäfte umgewandelt wurden- damals mit großen Haushaltsverlusten durch Bauprojekte. In Istanbul sollen jetzt in zahllosen Projekten öffentliche Flächen zu städtischen Quartieren umgebaut und verkauft werden; man betont die "Entwicklung" und die internationale Ausrichtung. Vom autoritären Staat werden städtische Zonen "freigemacht" für profitträchtige Investitionen.Dabei wurde die Metropole zu "einem kommerziellen Zentrum, wo die Fäden der globalen Ökonomie zusammenlaufen", schreibt Adali. Arme EinwohnerInnen werden aus der Innenstadt vertrieben. So verplante man "vom Reißbrett" das Viertel Tarlabasi, "ohne Respekt für historische und kulturelle Bezüge". Hier hatte die ärmere Bevölkerung seit den 60-er Jahren Nachbarschaftsstrukturen entwickelt. Kurden und Roma aus Tarlabasi wurden seit 2006 zum Wegzug gezwungen, als die Regierung begann, 278 Grundstücke zu Sanierungsgebieten auszuweisen. Die "Sanierung", meistens mit großflächigen Abrißaktionen, läuft über Public-private-partnership.

Vertreibung und Verschuldung von Roma-Bevölkerung

Die dramatischen Ereignisse der Sanierungsprogramme in den Vierteln Tarlabasi und Sulukule können in dem Film "Ekümenoüpolis" von 2011 verfolgt werden: Bulldozer der Baugesellschaften machen die Häuser der Viertel nieder; deren Bewohner müssen hilflos zusehen. Ohne soziale Unterstützung werden sie auf die Straße gesetzt. Der Regisseur Imre Azem beleuchtete in dem Film die wirtschaftlichen und demografischen Verhältnisse bei der städtischen Transformation im Zeichen des Wachstums.

Allen voran wurden die Menschen in prekärsten Verhältnissen von den Sanierungen bedroht, wie die Roma in Sulukule. Das großangelegte Abrissprogramm, mit dem 3.400 Roma aus ihren selbsterrichteten Häusern vertrieben wurden, resümierte der Guardian 2009: Die Vorsitzende der Roma-Vereinigung für Kulturentwicklung und Solidarität beurteilte, dass mit diesem "Erneuerungsprojekt" Profite und die Vertreibung von Roma aus der Stadt angestrebt waren. Die Einwohner wurden gezwungen, ihre Häuser für 175 türkische Lira pro Quadratmeter an die Kommunalverwaltung Fatih und private Investoren zu verkaufen. Als der Abriss angekündigt wurde, appellierte Amnesty International, ohne jedoch gehört zu werden, davon Abstand zu nehmen.

Der Regisseur Azem berichtete von den Umständen der Stadterneuerungsprojekte seit 2012 in einem Vortrag über "Brutale Verdrängung in Istanbul" am 10. Oktober in Berlin (Veranstaltungsreihe "Wohnen in der Krise" der Berliner Mietergemeinschaft). Bei Sulukule am Bosporus-Ufer handelte es sich um ein kulturelles Erbe aus rund 1000 Jahren, das hier für die neuen Baustellen weichen musste. Die Einwohner hatten mit selbst errichteten Hütten, Gecekondus, hier in den 1970er Jahren zur Besiedlung beigetragen. Sie wurden geduldet und konnten beim Aufbau der Industrie als billige Arbeitskräfte dienen.

Heute wird ihre Vertreibung gewünscht. Dabei wird ohne Umstände vorgegangen. Für den Stadtumbau hat die Regierung früher kommunal verwaltete Wohnraumbehörden zentralisiert und in die staatliche Wohnungsbaugesellschaft Toki überführt. Die agiert jedoch wie ein privates Unternehmen. Auch wurden seit 2006 die Gesetze geändert, um Enteignungen in kurzer Frist zu ermöglichen. Z. B. ermöglicht das Gesetz von 2012 "zum Schutz vor Naturkatastrophen" rasche Umsetzungen von Anwohnern für Stadterneuerung: "Gegen Räumungsankündigungen können nun betroffene Einwohner nicht mehr klagen, schon der Versuch wird mit Strafe bedroht".

Für durchschnittlich 40.000 türkische Lira wurde eine solche Wohnung Roma- Einwohnern abgekauft - zu wenig Geld, um damit irgendeine andere Wohnung in der Metropole zu erwerben, führt Azem aus. Für 80.000 bis 120.000 TL werde den Betroffenen dann eine neue Wohnung der TOKI-Gesellschaft am Stadtrand zum Kauf geboten. Wohngeld oder andere soziale Maßnahmen gibt es nicht. Die kostspieligen Wohneinheiten werden jedoch als "Sozialwohnungen" ausgeschildert. An den Ratenzahlungen scheitern schließlich die meisten der Betroffenen. Der Mindestlohn bei einer regulären Arbeit liege in der Türkei bei 600 TL.

"Auf diese Weise erwirtschaftet die Toki-Gesellschaft rasche Gewinne auf Kosten der Armen. Die Stadtstrukturierung des Staates führt Menschen in die Verschuldung und setzt soziale Probleme bis in nächste Generationen in Gang", führt Azem aus. 30 bis 40 Kilometer sind die Ausweichquartiere von den innenstädtischen Vierteln (Tarlabasi, Sulukule oder etwa Ayazma) entfernt. In den neu errichteten Wohnsilos von TOKI würden die Betroffenen aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld gerissen; auch gebe es dort am Stadtrand keine Arbeitsmöglichkeiten für sie. Viele der Betroffenen kamen zurück in das alte Wohnviertel, sie verkauften die Ausweichwohnung mit Schulden weiter und waren dann wohnungslos.

In Azems Film geht der Blick auch auf Protestbewegungen auf der Straße. So wird deutlich, dass urbane Politik hier der offiziellen Politik gegenübertritt und immerhin ebenfalls Tatsachen schaffte: Sie mündete in die bekanntgewordenen Taksim-Platz-Proteste. Azem ist selbst in der "Urbanen Bewegung der Bevölkerung" IMECE tätig, die mit anderen Gruppen - insgesamt in etwa 60 Foren in Istanbul- die Verständigung bei den Verdrängungsprozessen sucht und die öffentliche Präsenz anstrebt.

In 81 türkischen Städten betreibt TOKI heute Bauprojekte. IMECE und Kulturvertreter aus Initiativen der Stadtviertel kritisieren, dass die Wohnungsbaugesellschaft nicht kontrolliert werden könne, weil sie direkt der Staatsführung unterstehe. So müsse sie auch, wenn sie das Gesetz "zum Schutz vor Naturkatastrophen" anwende, keine wissenschaftlichen Gutachten zur Überprüfung vorweisen. Mit der Aufsicht von TOKI - das sich selbst auf der Homepage als Non-Profit-Gesellschaft bezeichnet - und mit dem Ministerium für Umwelt und Stadtplanung werden Projekte im Land gesteuert, die international und auf dem Binnenmarkt das Kaufinteresse zahlkräftiger Investoren wecken sollen. Für die nächsten Projekte wurde in 2012 der Abriss von Millionen von Gebäuden im Land angekündigt angekündigt.

Von einer Orientierung an der Bevölkerung habe sich die Regierung, befindet Imre Azem, seit langem abgewendet. So wären Spendengelder für Betroffene des schweren Erdbebens von 1999 nicht für den Wiederaufbau verwendet worden. Auch warteten die Einwohner der armen Provinz Van im Osten der Türkei, die 2011 von einem schweren Erdbeben heimgesucht wurde, bis heute vergeblich auf Hilfe. In der kurdisch bevölkerten Region hätten Gruppen deshalb einen Hungerstreik begonnen und forderten, dass die Regierung für einen Wiederaufbau tätig werde.

Dem entsprach auch, dass Erdogan bei seinem Auftritt gegenüber den Taksim-Platz-Besetzen seine frontale Haltung gegenüber jeder Kritik zeigte und diese als "Plünderer" (Tschapulisten) beschimpfte. Le-Monde-Diplomatique-Autor Adali, der auch bei "Reclaim Istanbul" bloggt, verdeutlicht, dass das Plangeschehen bei den Baugeschäften politisch zentralisiert ist. Das erklärt auch die Medienzensur bei der Occupy-Bewegung im Gezi-Par : Polizeigewalt wurde verschwiegen, oder es wurde gar nicht erst über neueste Ereignisse am Ort berichtet. Dennoch - oder deswegen - politisierte sich die Einwohnerschaft und die Demonstranten eroberten in jenen Wochen Tarlabasi von den Bauplanern zurück. Politische Instrumente wurden angesetzt, um betroffene Bevölkerungsschichten mundtot zu machen: Es ging um Unsichtbarmachung. Allerdings wohl nicht mit dem erwünschten Erfolg für die Regierung.