Wenn das Etikett keine Rolle spielt

Wie Pharmafirmen versuchen, den Anwendungsbereich von Medikamenten über die Zulassung hinaus auszudehnen

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Wenn Arzneimittel offiziell zugelassen werden (in Deutschland beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte - BfArM -, in Europa bei der Europäischen Arzneimittelagentur - EMEA), geht es ähnlich zu wie beim Ausstellen eines Führerscheins: Jedes Medikament wird für einen bestimmten Zweck zugelassen, so wie ein Motorrad-Führerschein nicht auch automatisch gleichzeitig für LKWs gilt.

Es ist leicht nachzuvollziehen, wie sinnvoll das ist. Wenn ein Stoff etwa bei der Behandlung einer Krebsart im letzten Stadium Linderung verspricht, dann spielt es kaum noch eine Rolle, falls dabei auch die Zeugungsfähigkeit verloren geht. Soll dasselbe Medikament nun gegen Schnupfen eingesetzt werden, dürften die damit behandelten Patienten die möglichen Nebenwirkungen aber durchaus interessieren. Den Hersteller interessiert solch eine Möglichkeit aber noch viel mehr: Das Arzneimittel statt an eine kleine Gruppe tödlich Kranker nun an die Hälfte der Bevölkerung verkaufen zu können, beflügelt Umsätze und Börsenkurs enorm.

Ein solches Vorgehen heißt Off-Label-Use - und ist in der Praxis absolut üblich. Das hat mehrere Ursachen, die vor allem im wirtschaftlichen Bereich liegen. Oft beantragen die Pharmafirmen die Zulassung bewusst nur für einen eng umgrenzten Bereich - das spart Kosten, weil die klinischen Prüfungen weniger Aufwand erfordern. Teilweise ist es aber auch aus ethischen Gründen schwierig, die nötigen Wirkungsnachweise zu führen. Das betrifft zum Beispiel die Anwendung von an Erwachsenen getesteten Medikamenten an Kindern. Drei Viertel der in den USA zugelassenen Medikamente sind nur an Erwachsenen getestet worden - jede Anwendung an Heranwachsenden fiele damit in die Off-Label-Rubrik. Ähnliches gilt für Schwangere: Die auf vielen Beipackzetteln zu findende Einschränkung „Nicht zum Gebrauch während der Schwangerschaft“ ist das sichtbare Ergebnis.

Überraschenderweise betreffen die häufigsten Off-Label-Anwendungen trotzdem gar nicht Kinder und Schwangere. In den USA sind gehören bei der Krebsbehandlung drei Viertel und bei der Behandlung seltener Krankheiten sogar 90 Prozent aller Verschreibungen in den Off-Label-Bereich. Gerade bei manchen besonders seltenen Krankheiten ist denn auch gar kein zugelassenes Arzneimittel erhältlich - in diesem Fall können Ärzte gar nicht anders, als andere Medikamente "Off-Label" zu verschreiben. Es ist allerdings im allgemeinen nicht legal, wenn Pharmahersteller für die nicht bestimmungsgemäße Verwendung ihrer Produkte werben. Im medizinischen Fachjournal PloS Medicine beschreiben zwei Forscher, wie die Firmen trotzdem für Werbung sorgen.

Beliebtes Werbemittel: medizinische Fortbildungen

Die Strategien sind vielfältig und beginnen demnach schon bei der Entwicklung des Medikaments. So ist es zum Beispiel möglich, eine stark eingeschränkte, dafür aber schnellere und billigere Zulassung anzustreben - und parallel schon die extensive Off-Label-Nutzung zu popularisieren. Offiziell wird dabei stets nur die zulassungsgerechte Verwendung beworben - doch gleichzeitig versichert man sich der Mithilfe einflussreicher Uni-Ärzte, die selbstverständlich nie Firmenangestellte sind.

Angestrebt werden dabei Fallstudien, Publikationen in seriösen Fachzeitschriften, die von der überraschend guten Wirkung des Medikaments bei einer Anwendung außerhalb der Zulassung berichten. Dieser Weg ist deutlich günstiger, als über klinische Studien eine nachträgliche Erweiterung der Zulassung zu erreichen. Auf Konferenzen vorgestellte Abstracts und Poster eignen sich für diesen Zweck ganz besonders gut, weil sie einerseits in der öffentlichen Meinung den Stand der Forschung charakterisieren, andererseits aber in der Regel den Peer-Review-Prozess vermeiden, den Fachzeitschriften vor die Veröffentlichung setzen. So ist es oft möglich, unvollständige Ergebnisse unters Volk zu bringen. Ist ein Poster schon erfolgreich genug, kann man sogar auf die Publikation verzichten.

Ein anderes beliebtes Werbemittel stellen medizinische Fortbildungen dar, die man im Auftrag des Unternehmens mit Vortragenden bestückt. Eine wichtige Rolle spielen hier auch die Pharmavertreter. Zwar wird denen das Bewerben der Off-Label-Anwendung nicht empfohlen, doch dann sind eben die Verkaufsziele so hoch gesteckt, dass sie ohne Off-Label nicht zu erreichen wären. Schließlich versuchen die Firmen auch, ihre Botschaften in Arzneimittelverzeichnissen unterzubringen. In den USA beschreiben diese, welche Medikamente von den Versicherungen bezahlt werden. Als Schlussfolgerung fordern die Wissenschaftler, die Werbung mit Off-Label-Anwendungen stärker zu bestrafen - die Strafgelder, meinen sie, könnte man sogar als finanziellen Anreiz dafür einsetzen, derartige unerlaubte Werbung zu melden.