Wenn die Zellen laufen lernen
"Live Cell Imaging": eine neue Ära der biologischen Forschung, die sich auf das Zusammenspiel von Biologen, Biophysikern und Informatikern gründet
Die Biologen haben die Kunst, mit dem Mikroskop umzugehen, tiefgreifend verfeinert. Nicht mehr nur Momentaufnahmen, sondern spannende Action ist gefragt.
Wir haben detaillierte Kenntnisse darüber wie Proteine und Lipide in der Zelle miteinander reagieren, um die Bildung, Erhaltung und Funktion der zellulären Organisation zu bewerkstelligen. Die dafür eingesetzten biochemischen und genetischen Experimente sind ungemein vielfältig. Dennoch: in Wirklichkeit handelt es sich um Schnappschüsse, also eine höchst statische Sicht.
Aus diesen Gründen ist "Live Cell Imaging" für Victoria J.Allan von der School of Biological Sciences an der University of Manchester die Zukunft der biologischen Forschung.
Science sieht in der zunehmenden Zahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen einen Paradigmawechsel und widmet dem Umbruch durch mehrere Artikel eine erste Zwischenbilanz. "Wir wollen erklären helfen, wie heute Einblicke in den Ablauf der Zelle zustande kommen," sagt Donald Kennedy, der Herausgeber. Die Mediziner haben es vorgemacht: bildgebende Verfahren nennen sie die Technik, die nicht nur der Betrachtung von Organen dient, sondern durch Kontrastmittel, Farbstoffe und Fehlfarbentechnik komplizierte Abläufe sowie Funktionen und Fehlfunktionen sichtbar werden lassen.
Warum kommt die Erkenntnis für die Zellforschung so viel später: Mikroskop und Farbstoffe, insbesondere die fluoreszierenden Marker, sind hinlänglich bekannt? "Wir haben mit drei Problemen zu kämpfen," erklärt Victoria J.Allan, "der Qualität der Detektion, der Geschwindigkeit, mit der wir die Veränderung erfassen, und der Lebensfähigkeit der Zellen."
Das Mikroskop, mit dem Robert Koch die Tuberkelbakterien fand, ist bereits Geschichte. Um Bilder fortlaufend drei- oder vierdimensional aufzunehmen, braucht man CCD-Detektoren. Deren Lage, das System der Fokussierung, sowie die Art der Beleuchtung (Quecksilber- oder Xenonlampen, Laserlicht) bilden jeweils eigene Ensembles, die ausgewählt und auf das aktuelle Interesse eingestellt werden müssen. Keine leichte Aufgabe, weil die Rahmenbedingungen von Fragestellung zu Fragestellung unterschiedlich sein können. Da die modernen Mikroskope kaum noch "stabile" optische Systeme sind, müssen mannigfache technische Besonderheiten einkalkuliert werden, beispielsweise Ein- und Ausschaltvorgänge, die bei Langzeitaufnahmen Artefakte erzeugen. Hinzu kommt die Photosensitivität der lebenden Zellen, weil etwa Fluoreszenzfarbstoffe unter bestimmten Wellenlängen freie Radikale und damit unkontrollierbare Zellschadstoffe entstehen lassen.
Deshalb reicht es nicht aus, das Zellmaterial gut einzupacken und mit Sauerstoff zu versorgen. Die Intensität des Lichtes, das Herausfiltern schädlicher Wellenlängen, die Zeitdauer der Beleuchtung und viele andere Komponenten wollen bedacht werden, wenn es darum geht, die Zellen möglichst unversehrt nach ihrer Funktionen auszuspähen. Aus diesen Gründen ist das übersichtsreiche Video auch heute noch die Seltenheit. Für rasch ablaufende Prozesse wie die Reizleitung im Nervensystem sind die gegenwärtigen Beobachtungssysteme immer noch zu träge.
So behelfen sich die Forscher mit Einzelbildern, die von der Reizleitung selbst über Galvanometer getriggert werden. Eine andere Lösung sind streng fokussierte Aufnahmen, die sich auf kleine Areale beschränken und die Veränderungen Pixel für Pixel messen, um daraus nach mathematischen Modellen den Ablauf zu berechnen. Das große Interesse an bildgebenden Verfahren in der Krebsforschung und insgesamt in der Arzneimittelforschung hat die Entwicklung multiphotoner Systeme beschleunigt.
Es stellte sich nämlich heraus, dass viele der in der Zelle gebrachten fluoreszierenden Farbträger ihr Farbverhalten zugunsten langwelliger Exzitationswellenlängen ändern, sobald mit zwei Photonen im Femtosekundentakt angestoßen werden. Weil die langen Wellen tiefer ins Gewebe eindringen, bringen sie dem Forscher deutlich mehr Informationen. Der sehr erwünschte Nebeneffekt: die Lichtschädigung im Gewebe wird verringert.
"Alles das ist erst möglich geworden, seitdem die Biolumineszenz der Tiefseequalle Aequorea victoria als Grün Fluoreszierende Protein (GFP) entdeckt wurde," erklärt Jennifer Lippincott-Schwartz vom National Institutes of Health in Bethesda, "Der Farbstoff benötigt weder Substrat noch Coenzyme. Heute gibt es ihn in einer Vielzahl von Mutanten, nachdem es vor 10 Jahren gelang, das GFP- Gen zu klonen."
Tatsächlich kann inzwischen jeder Eiweißkörper mit GFP gekoppelt werden. So wie der Maler seine Farben wählt und mischt, greifen die Zellforscher die für ihre Fragestellung passende Komponente aus der angebotenen Farbpalette heraus.
Der Vorteil ist, dass man optimale Bedingungen schaffen kann, der Nachteil, dass verschiedene GFP-Proteine unterschiedliche Funktionen wiedergeben können,
mahnt Jennifer Lippincott-Schwartz an.
Die Auswirkungen auf die Zellforschung sind bereits jetzt überwältigend. Walther Flemming, der Anatom aus Kiel, der 1882 die Zellteilung beschrieb und den Begriff Mitose einführte, wäre heute von der detailreichen Darstellung fasziniert. Conly L. Rieder von der Division of Molecular Medicine am Wadswoth Center in Albany hat Bewunderung übrig:
Flemmings Beobachtungen sind immer wieder bestätigt worden, 1950 im Phasenkontrast, und in den 60er Jahren durch die Elektronenmikroskopie. Mit unseren heutigen Methoden sind wir von der Fülle der Informationen so überwältigt, dass wir trotz der Kenntnis um die Gene noch viel zu wenig über "die Spindel" wissen, den alles beherrschenden Vorgang der Zellteilung.
Aus der Sicht der Krebsforschung ein drängendes Problem. Hochrechnungen besagen, dass im menschlichen Körper zu jedem Zeitpunkt 2,5 mal 10 hoch 8 Zellen in der Teilung begriffen sind. Störfälle in nur einem Prozent erzeugen atypische Zellen und schlimmstenfalls Krebs. "Die Agoptose, der Zelltod, stellt hohe Anforderungen an den Körper. Deshalb müssen wir unser Augenmerk mehr als bisher auf die Ursache lenken," so nochmals Conly L. Rieder.
Cornelius J. Weijer vom Wellcome Trust Biocentre in Dundee, UK demonstriert die Leistungsfähigkeit des "Live Cell Imaging" an der Dynamik von Actin Filamenten und bestätigt die Ergebnisse von britischen Wissenschaftlern aus der Arbeitsgruppe von Graham A. Dunn vom King`s College London. Die Kontraktion in Ratten Fibroblasten beträgt 5 Mikrometer pro Sekunde und erfüllt damit alle Bedingungen eines aktiven Transportes. Dieser Erkenntnis liegen nicht wie bisher Messungen des intrazellulären Milieus zugrunde, vielmehr beruhen sie auf der vitalen Betrachtung der Filamente.
"Live Cell Imaging" meint eine neue Ära der biologischen Forschung, die sich auf das Zusammenspiel von Biologen, Biophysikern und Informatikern gründet. Auf diese Weise bekommt der Einwand "Lass es uns erst einmal im Lichte besehen" einen neuen Inhalt, weil Lebensvorgänge etwas Dynamisches sind und nicht bloß Gene und Strukturelemente.