Wenn es ums Geld geht

Seite 2: Steigerung der Diagnosen

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Kommt es schließlich zu der Ausweitung der Kriterien, bei denen eine psychische Störung vorliegt, dann geht das mit einer Steigerung der Diagnosen einher. Unter der Annahme, dass diese Störungen Gehirnstörungen sind, liegt eine steigende Verschreibung von Psychopharmaka auf der Hand. Ein Puzzlestück fügt sich nahtlos an das andere. Genau diesen Trend sehen wir seit Jahrzehnten bei den Angst- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie Depressionen. Die heutigen Milliardenumsätze der Pharmaindustrie, die Allan Frances angesprochen hat, beruhen darauf. Das Geld fließt im Wesentlichen aus dem Gesundheitssystem und füllt die Taschen von Psychologen, Psychiatern, Pharmakologen, Managern, Lobbyisten und Anteilseignern.

Manchen Menschen helfen diese Mittel tatsächlich. Diejenigen Patienten, die sie nicht wirklich nötig hätten, riskieren aber mitunter gravierende Nebenwirkungen. Zumindest die Tatsache, dass Generationen vor uns ohne diese Mengen an Psychopharmaka auskamen und deren Gesellschaft auch funktionierte, sollte uns stutzig machen. Mehrere Studien zeigen zudem, dass diejenigen, die am meisten Hilfe nötig haben, zu schlecht versorgt werden, während diejenigen, die nur leichte Probleme haben, eine Überversorgung bekommen. Das Markt- und Effizienzdenken entscheidet sich für die gut behandelbaren Fälle ("Es gibt keine Schizophrenie")

Es greift aber zu kurz, bei finanziellen Interessenkonflikten im Bereich der psychischen Gesundheit nur auf die Pharmaindustrie zu schauen. Denn auch zahlreiche Forscherinnen und Forscher bedienen sich der kapitalistischen Mechanismen und orientieren sich an der vorherrschenden Wissenschaftspolitik. Beide zielen auf Nutzen- und Effizienzmaximierung durch Wettbewerb ab.

Angebliche Kosten psychischer Störungen

So rechnen uns Fachleute Jahr für Jahr vor, wie viele Milliarden psychische Störungen die Gesellschaft angeblich kosten (Verursachen psychisch Kranke finanziellen Schaden?). Eine mit solchen Kostenrechnern verbundene Lobbyorganisation, der sogenannte European Brain Council, hat dafür auf ihrer Internetseite sogar einen Ticker programmiert: Dieser erhört sich pro Sekunde um rund 25.000 Euro. Diese Zahl bezieht sich auf die Europäische Union und ergibt, aufs Jahr hochgerechnet, "Kosten" in Höhe von knapp 800 Milliarden Euro. Das wäre ein Drittel des Bruttoinlandprodukts Deutschlands! Die Lobbyisten schreiben darüber:

165 Millionen Europäer leben mit einer Gehirnstörung [im Original: "brain disorder", d. A.]. Das verursacht globale Kosten (direkt und indirekt) in Höhe von mehr als 800 Milliarden Euro für die nationalen Gesundheitssysteme.

European Brain Council, Übers. d. A.

Abgesehen davon, dass sie sich hier um ein paar Milliarden Euro vertun - was spielt das bei solchen Größen noch für eine Rolle? -, sollten wir dieser Aussage aus zweierlei Gründen auf den Zahn fühlen: Erstens, wieso steht da auf einmal "Gehirnstörung"? Zweitens, wie werden diese Zahlen berechnet?

Wieso "Gehirnstörungen"?

Wie wir im ersten Teil gesehen haben, lautet die amtliche Fassung psychischer Störungen keinesfalls, dass diese Gehirnstörungen sind. Vielmehr hieß es dort, sie reflektierten "eine Dysfunktion in den psychologischen, biologischen oder entwicklungsbedingten Prozessen, die dem geistigen Funktionieren unterliegen". Das Gehirn ist für unser Seelenleben zwar von zentraler Bedeutung. Es befindet sich aber in einem Nervensystem in einem Körper einer Person mit einem Netzwerk zwischenmenschlicher Beziehungen in einer bestimmten Gesellschaft und Biosphäre.

Davon abgesehen sind psychische Störungen auf Werturteilen und Normen basierende Definitionen. Diese liegen - sowohl in der Theorie als auch in der Praxis - im Auge des Betrachters. Es handelt sich hier also mitnichten um natürliche Kategorien. Dass einige Forscher psychische Störungen zusammen mit neurologischen Störungen salopp als "Gehirnstörungen" definieren, dürfte vor allem Karrierezielen geschuldet sein: Seit den 1990ern Jahren - der sogenannten "Dekade des Gehirns" - gibt es nun einmal sehr viel Geld für Hirnforschung.

Auf kritische Nachfrage schrieb mir dann auch einer der führenden Forscher Europas auf diesem Gebiet: "Brain Disorders. Ein ganz blöder Begriff, der nur eine politische, finanzstrategische Bedeutung hat. Psychische Störungen sind psychische Störungen und keine Hirnerkrankungen." Warum schreiben Wissenschaftler etwas in wissenschaftliche Publikationen, obwohl sie wissen, dass es nicht stimmt? Der Experte gab die Antwort selbst: aus strategischen Gründen.

Wie man die Kosten errechnet

Welche Bedeutung das sowohl für die Wissenschaft als auch für die Patientinnen und Patienten hat - und laut European Brain Council sind das ja allein in der EU rund 165 Millionen Menschen -, werden wir im letzten Teil der Serie sehen. Hier erst noch eine Bemerkung über die Berechnung der Kosten: Die angeblichen 800 Milliarden setzen sich aus direkten und indirekten Kosten zusammen. Erstere sind diejenigen Kosten, die eine Erkrankung im Gesundheitssystem verursacht. Diese schätzen Expertinnen und Experten auf 35% der Gesamtkosten.

Anders betrachtet ist das aber der Umsatz der Heilberufe und -Industrie: etwa Kosten für Krankenhausaufenthalte, Medikamente und ambulante Versorgung. Wehe den Ärzten, Apothekern, Krankenpflegern und Therapeuten, wenn es auf einmal keine Krankheitskosten mehr gäbe! Gesamtgesellschaftlich handelt es sich also um ein Nullsummenspiel. Wer die Gelder anders verteilen will, wird es jedenfalls mit der Gesundheitslobby zu tun bekommen. Inklusive ist allerdings ein - in den meisten europäischen Ländern - noch relativ humanes Gesundheitssystem. Das hat auch einen Wert, den wir nicht vergessen sollten.