Wer beißt zuerst ins Gras?

Voraussagen über das Artensterben sind schwerer zu treffen als bislang angenommen.

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Ursachenforschung anhand vergangener Fälle genügt nicht, um Prognosen über den Verlauf und die zukünftige Wahrscheinlichkeit des Aussterbens von Arten zu treffen oder diesem vorzubeugen.

Die Biologen Anthony R. Ives und Bradley J. Cardinale vom Institut für Zoologie der University of Wisconsin simulierten verschiedene Szenarien im Computer in der Hoffnung, Vorhersagen über die Auswirkungen von Umweltverschlechterungen auf das Ökosystem treffen zu können. Dazu muss ihrer Meinung das vielschichtige Beziehungssystem, das Arten in ihren jeweiligen natürlichen Lebensgemeinschaften unterhalten, analysiert werden. In der aktuellen Ausgabe von Nature plädieren Ives und Cardinale daher für einen "ganzheitlichen" Forschungsansatz.

Die Schätzungen des Artenreichtums auf unserer Erde reichen von 13 bis 100 Millionen Pflanzen-, Tier-, Pilz-, Bakterien- und sonstiger Arten (Das Artensterben geht ungebremst weiter). Bislang sind davon allerdings erst rund zwei Millionen beschrieben. Während die einen Wissenschaftler dabei sind, neue Arten zu katalogisieren, führen die anderen die "Sterbelisten". Das gesamte Ausmaß des Artenverlustes lässt sich nur ungenau beziffern. Man geht aber davon aus, dass jährlich ungefähr 17.500 Arten für immer verschwinden, was um einiges über der natürlichen Aussterberate von einer bis maximal drei Arten pro Jahr liegt. Welche Konsequenzen das rapide Schwinden der Biodiversität haben wird, ist im Moment noch gar nicht abzusehen, doch es ist davon auszugehen, dass seine Folgen auch für den Menschen unangenehm sein werden. Weltweit versuchen Wissenschaftler daher herauszufinden, wie sich der Artenverlust auf die in einem Ökosystem ablaufenden Prozesse auswirkt und welche Möglichkeiten es gibt, ihn zumindest zu verlangsamen.

Fressen und gefressen werden

Die meisten Studien, die sich mit dem Thema Artensterben beschäftigen, betreiben Ursachenforschung. Sie konzentrieren sich auf einzelne Arten und versuchen Faktoren zu bestimmen, die das Aussterben begünstigen. Besonders bedroht sind danach kleine Population oder Populationen mit einem begrenzten Verbreitungsgebiet. Ives und Cardinale gehen jedoch zunächst einmal davon aus, dass Arten umso anfälliger fürs Aussterben sind, je empfindlicher sie auf sich kontinuierlich verstärkende Stressfaktoren reagieren – ein solcher wäre etwa der Klimawandel.

In ihre Untersuchung darüber, wie natürliche Lebensgemeinschaften auf Umweltverschlechterungen reagieren, beziehen sie zudem auch die Beziehungen mit ein, die die Arten einer natürlichen Lebensgemeinschaft unterhalten, so genannte Nahrungsnetz-Interaktionen. Denn die Toleranzgrenze einer bestimmten Art gegenüber einer Umweltverschlechterung hängt nicht nur vom direkten Einfluss der Verschlechterung ab, sondern auch von indirekt wirkenden Faktoren in einem solchen Beziehungsnetz. Verschlechterungen können sich so beispielsweise auf die Populationsdichte auswirken, indem Gegenspieler und Feinde dezimiert werden, während andere Arten davon durch Zuwachs profitieren.

Computersimuliertes Artensterben

Um also Prognosen über die Auswirkung von Umweltverschlechterungen auf natürliche Lebensgemeinschaften treffen zu können, haben die Biologen drei unterschiedliche Typen von Gemeinschaften in jeweils 1.000 verschiedenen Szenarien im Computer durchgespielt. Dabei kamen sie zu folgenden Ergebnissen:

Bei Lebensgemeinschaften mit geringen Nahrungsnetz-Interaktionen sterben die einzelnen Arten je nach Empfindlichkeit gegenüber dem Stressfaktor aus – je niedriger die Toleranzgrenze, um so früher stirbt eine Art aus. Bei Gruppen mit starken Nahrungsnetz-Interaktionen hingegen kann das Aussterben von Arten einen kompensatorischen Effekt haben. In diesen Fällen werden die übrigen Arten insgesamt widerstandsfähiger und es entsteht ein Puffer gegen weitere Umweltverschlechterungen. Setzt sich das Artensterben jedoch fort, geht der Kompensationsvorteil allmählich verloren.

Allgemeine Prognosen über die Reihenfolge des Aussterbens sind in solchen Fällen allerdings schwierig, räumen Ives und Cardinale ein, da mit jeder Art, die ausstirbt, die Nahrungsnetz-Interaktionen der Arten neu geordnet werden.

In ihrer Schlussbemerkung resümieren die beiden Forscher daher:

"Die schlechte Vorhersagbarkeit spricht dafür, beim Thema 'Erhaltung der Biodiversität' Forschungsansätze zu verfolgen, die ein Ökosystem in seiner Ganzheit erfassen. Der künftige Beitrag einer Spezies zur Kompensations- und Widerstandsfähigkeit einer Gemeinschaft lässt sich nicht immer exakt prognostizieren. Auch Arten, die selten und scheinbar unbedeutend sind, können wichtig für die Widerstandskraft der Gruppe werden, nachdem andere Arten ausgestorben sind."