"Westliche Werte" - außerirdisch?
Ideenwelt und geopolitische Realität
Mit einem Auftritt in der Berliner Nikolaikirche würdigten der deutsche Außenminister und der Autor selbst das Erscheinen des abschließenden vierten Bandes eines voluminösen Geschichtswerkes: "Geschichte des Westens" von Heinrich August Winkler.
Als "großer Wurf" wird es in den Feuilletons hierzulande gewertet, in der Tat bringt es viel Lesenswertes. Angesichts der Seitenzahl ist freilich eine intensive Lektüre bei Massen von Lesern nicht zu erwarten; wohl aber findet die aktuelle politische Botschaft, die darin enthalten ist und die der Verfasser in zahlreichen Interviews popularisiert, ihr Publikum: Der historische "Weg nach Westen", vor allem auch Deutschlands, sei der große Glücksfall in der modernen Geschichte; das nordatlantische Bündnis verdiene, bei aller Kritik im Detail, eine prinzipielle Folgebereitschaft; die "westlichen Werte" seien global die einzig richtigen Leitbilder, geographisch nicht gebunden.
Immer wieder zeigt Winkler seine Beweisstücke dafür vor, Deklamationen der US-amerikanischen Revolution von 1776 und der französischen von 1789; hier finde man grundlegend und universell gültig die Menschenrechte als Ziel aller Politik formuliert. Ein "normatives Projekt" sei so in die Welt gekommen, immer noch nicht vollendet, derzeit sogar hoch gefährdet - durch den Islamismus, durch orientalische Despoten (jedenfalls solche, die "dem Westen" respektlos gegenübertreten), durch den Putinismus. Und wer weiß, ob nicht auch China "westliche Werte" attackieren wird?
Winkler kalkuliert beim "normativen Projekt" militärische Mittel ein. Zum "größten politischen Fehler" der Bundesrepublik erklärte er seinerzeit deren "Drückebergerei" beim kriegerischen Einsatz gegen Gaddafi, "Bündnisloyalität " sei damit missachtet worden. (Über die deutsche Nichtbeteiligung am Krieg gegen Saddam Hussein äußert Winkler sich nur undeutlich; er ist loyaler Sozialdemokrat...) Beim Kosovo-Krieg, an dem die Bundeswehr teilnahm, seien "westliche Werte nicht verletzt" worden.
Außerwestliche Sichtweisen können bei alledem auf ganz andere Erfahrungen mit dem "normativen Projekt" verweisen, vom "Boxerkrieg" in China einst über zahllose neokoloniale Zugriffe, die Intervention in Vietnam bis zu den Kriegen um Afghanistan, den Irak, Libyen. Stets war vom "Schutz der Menschenrechte" die Rede, wenn wirtschaftliche und geostrategische Interessen durchgesetzt werden sollten, "ethischer Imperialismus" betätigte sich. Millionen von Menschen brachte das den Tod oder die Vertreibung, durchweg war großflächige soziale Zerstörung das Resultat.
Aufschlussreich ist, welche Vorstellungen sich (nicht nur bei Winkler) mit den "westlichen Werten" im Blick auf politische Praxis verbinden. Demnach bilden Parlamentarismus, repräsentatives System, Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung den Kern des Projekts. Sind damit Menschenrechte schon garantiert? Könnte es nicht sein, dass diese im Irdischen eine Rangordnung haben: Als erstes das Recht auf Überleben, auf Freiheit von Hunger und sozialem Elend?
Die "westlichen Werte" in der denkmalgeschützten Nikolaikirche: Diese, inzwischen entsakralisiert, wird unter anderem als Räumlichkeit für Ausstellungen genutzt. Eine kritische Besichtigung dort präsentierter Museumsstücke ist durchaus statthaft.
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