Wie Chinas Billigstahl die Industrie in Lateinamerika erstickt
China erweitert seine Einflusssphäre im globalen Bausektor. Südlich der US-Grenze wird Kritik laut, China "überflute" lokale Märkte mit Billigstahl und Dumping-Praktiken.
US-Präsident Joe Biden kündigte vor wenigen Tagen an, Handelszölle auf chinesischen Stahl und Aluminium massiv anzuheben: Von derzeit 7,5 auf satte 25 Prozent sollen die Zölle steigen, von "unfairem Wettbewerb" spricht das Weiße Haus. Bei einer Rede vor Stahlarbeitern in Pennsylvania garantierte Biden zudem, die Übernahme des Unternehmens US Steel durch die japanische Firma Nippon Steel zu verhindern.
Im Hinblick auf die Überproduktion und die stark gestiegenen Exporte des chinesischen Stahls kommentierte der 81-jährige Staatschef: "Das ist kein Wettbewerb, das ist Betrug." Der Wahlkampf läuft bereits auf Hochtouren – und der Demokrat möchte sich die Gunst der Gewerkschaften und der Arbeiterklasse sichern.
Ferner kündigte Washington eine Untersuchung bezüglich "unlauterer Praktiken Chinas in den Bereichen Schiffbau, Schifffahrt und Logistik" an. Denn deren politische Maßnahmen seien "aggressiver und interventionistischer als die jedes anderen Landes".
China als Weltmarktführer mit Billigstahl
Auch im "Hinterhof" der USA, in Lateinamerika, sorgt man sich um die Marktmacht des chinesischen Billigstahls. Vor einigen Wochen veröffentlichte die Asociación Latinoamericana del Acero (Alacero) eine Pressemitteilung samt Video. Eine "Krise der Wirtschaft Lateinamerikas" wird da konstatiert.
Grund dafür seien die "unfairen Handelspraktiken Chinas". China "überflute" den regionalen Markt mit seinem billigen Stahl, Werke in der Region müssten schließen. Insgesamt 1,4 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie seien gefährdet. Heftige Wehklagen eines Sektors, der dort in knapp einem Vierteljahrhundert keine nennenswerte Dominanz in der Branche erreichen konnte.
Schaut man sich die Daten der World Steel Association seit 2000 an – damals trug Lateinamerika zu 6,6 Prozent des weltweiten Stahls bei – kletterte die Zahl schrittweise nach unten. 2023 waren es nur noch 3,1 Prozent; weniger als die Hälfte.
Alejandro Wagner, CEO des Stahlverbands Alacero mit Sitz in São Paulo, Brasilien, beschwert sich über die Vorherrschaft des "asiatischen Giganten". Gegenüber der spanischsprachigen BBC kommentiert er, China habe seine Produktion im selben Zeitraum "um fast 700 Prozent gesteigert". Das Reich der Mitte habe somit seinen Weltmarktanteil der Stahlproduktion von 15 Prozent auf 54 Prozent erhöhen können. Parallel dazu habe Lateinamerika seine Produktion um lediglich vier Prozent steigern können.
Wagner kritisiert zudem, dass China unterhalb des Marktpreises exportiere, was fairen Wettbewerb unmöglich mache. China provoziere gar eine "Deindustrialisierung" Lateinamerikas, so der CEO des Interessenverbandes gegenüber BBC Mundo.
Aber wie schafft es China überhaupt, so günstig – und so viel – zu produzieren?
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Zum einen ist die Stahlproduktion staatlich subventioniert. Durch die Zuwendungen können Firmen kostengünstig produzieren. Umweltstandards spielen keine Rolle. Die Produktion des Materials innerhalb Chinas erzeugt im Schnitt mehr umweltschädliche CO2-Emissionen als in den USA oder Lateinamerika. Das ist China natürlich herzlich egal.
Auch werden die Stahlexporte staatlich gefördert. So konnte sich China als dominanter Player auf dem Weltmarkt festsetzen. Und so schafft es die östliche Weltmacht auch, seinen Stahl unter Marktpreisen zu verkaufen – worin der Stahlverband Alacero eine "klare und direkte Bedrohung" sieht und China "Dumping" vorwirft. Ein Lösungsansatz bestehe darin, zunächst Zölle zu erhöhen, wie es Mexiko und nun die USA bereits getan haben.
Maritime Expansion: Die "neue Seidenstraße" Chinas
China expandierte über die letzten Jahrzehnte nicht nur im Bausektor, sondern auch mit Infrastruktur-Projekten. Im Jahr 2009, als die Bild-Zeitung mit ihrer Hetzkampagne gegen die "Pleite-Griechen" begann, die undemokratische Troika das Land mit Zwangsmaßnahmen überzog, sah die chinesische Führung eine echte Chance. Der Hafen von Piräus, einer der größten im Mittelmeerraum, befand sich am Rande der Insolvenz. 51 Prozent des Containerhafens wurde an Cosco Shipping verpachtet, einem chinesischen Staatskonzern. Zeitraum: 35 Jahre. Mittlerweile hält Cosco 67 Prozent des Hafens.
Seit vergangenem Jahr hält Cosco darüber hinaus rund 25 Prozent eines Container-Terminals am Hamburger Hafen.
Auch in Südamerika erweitert der Staatskonzern seine Präsenz: Dort will sich China in Peru mit dem Megaprojekt in Chancay etablieren. Die Küstengegend, rund 80 Kilometer von der Hauptstadt Lima entfernt, ist derzeit eine riesige Baustelle. Cosco Shipping heißt auch hier der Betreiber. Ende des Jahres soll der Bau fertig sein. Es soll der größte Hafen ganz Lateinamerikas werden.
Solche Megaprojekte sind in Schwellenländern mit geringer Kaufkraft und schwachem Staat rhetorisch simpel zu bewerben – Arbeitsplätze, Arbeitsplätze und nochmals Arbeitsplätze. Kritiker des Projekts in Chancay merken an, dass das Bauprojekt in privater Hand des chinesischen Konzerns sei – der peruanische Staat demnach keinerlei Mitbestimmung bei der Planung des Projekts habe. Chancay hat eine strategisch wichtige Lage: Es ermöglicht China den schnellsten Anschluss über den Pazifik überhaupt.
"China selbst hat, gemessen am Volumen der Anzahl der Container, die weltweit größten Häfen. Daher ergibt es Sinn, dass sie diesen strategischen Einfluss auch außerhalb ihrer Grenzen erweitern wollen", so Mario Esteban, Forscher des Real Instituto Elcano, gegenüber El País.
Fast 100 Häfen in über 40 Ländern besitzen die Chinesen bereits auf dem Planeten. Das ist das größte maritime Netzwerk weltweit. Von einer "neuen Seidenstraße" ist bereits die Rede.
Was will China in Lateinamerika?
Zurück zum Stahl: Die lateinamerikanische Vereinigung Alacero kritisiert, dass der Einfluss Chinas auch dazu führe, dass Stahlwerke in der Region ihre Produktion einschränken oder gar ganz schließen müssen. Tatsächlich ist dieser Trend nicht von der Hand zu sein. Kürzlich musste das Eisenhüttenwerk Gerdau in Brasilien 700 Mitarbeiter entlassen.
Während China noch zu Beginn des Jahrtausends rund 85.000 Tonnen jährlich exportierte, sind es mittlerweile zehn Millionen Tonnen, nach Daten der World Steel Association. Vergangenen Monat kündigte das Stahlwerk Huachipato in Chile seine Schließung auf unbestimmte Zeit an. Derzeit regt sich Protest vor Ort, Tausende Arbeitsplätze hängen an dem Werk. Doch alleine im ersten Halbjahr 2023 verzeichnete das Unternehmen 279 Millionen US-Dollar Verlust. Chinesischer Stahl sei rund 40 Prozent günstiger als der chilenische, bemerkt die Nachrichtenagentur AFP.
China lässt sich beim Business nicht von Ideologie leiten: Sowohl der rechtsgerichtete Autokrat El Salvadors, Nayib Bukele, als auch der Chavist Nicolás Maduro in Venezuela paktieren mit China. Investitionen in Brasilien, Chile, Argentinien – China ist nahezu überall. Die Erschließung neuer Märkte ist zwar ein relevanter Punkt der chinesischen Expansion. Doch wesentlich wichtiger ist für China mittlerweile die Sicherung der reichhaltig vorhandenen und begehrten Rohstoffe der Region: Lithium, Kupfer und Nickel.
Die Erweiterung des Einflussbereichs in technologischen Sektoren ist ebenso relevant. In Argentinien konstruierte China 2018 "Espacio Lejano" in einer abgelegenen Gegend. Riesige Sonden, die zur "friedlichen Erkundung des Weltalls" dienen sollen, schmücken dort die Wüste. Die Institution wird jedoch von einer chinesischen Agentur betreiben, die dem Militär berichtet. Die argentinische Regierung überwacht die Station selbst nicht.
Auch mit Darlehen mischt sich China in die regionale Wirtschaft Lateinamerikas ein: Seit 2005 vergaben chinesische Staatsbanken 123 Kredite in der Region, im Wert von über 136 Milliarden US-Dollar, berichtet der Sender CNBC. Neben vergleichsweise attraktiven Zinsraten werden diese Darlehen zudem der chinesischen Landeswährung gezahlt – was die Umgehung des US-Dollars ermöglicht.