Wie Deutschland (gefühlt) zum Teil der Anti-Hitler-Koalition 2.0 wurde

Putin-Hitler-Vergleich, Whitehall, London, schon 2014. Bild: Cory Doctorow, CC BY-SA 2.0

Seit dem Angriff auf die Ukraine verkörpert Putin das neue Böse. Damit deutet sich eine Zeitenwende an. Anmerkungen zum Selbst- und Feindbild der Deutschen

Mit dem Ukraine-Krieg tritt die deutsche Außenpolitik in ein neues Stadium, sie will sich selbst als Führungsmacht und die EU "als eigenständigen militärischen Machtfaktor in Stellung bringen". Gleichzeitig kommt die hiesige Vergangenheitsbewältigung, die sich dem Nationalsozialismus widmete und wortreich die "Last der Vergangenheit" beschwor, an ein sachgerechtes Ende.

In gewisser Hinsicht könnte man auch sagen – was bei Telepolis kurz vor Kriegsbeginn schon Thema war –, dass Deutschland sich treu bleibt und der neue Feind der alte ist: Russland!

Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/ Die Grünen)hat den "erinnerungspolitischen" Bezug, natürlich mit anderer Akzentsetzung, bei der Ankündigung einer Nationalen Sicherheitsstrategie ebenfalls hergestellt und an "die Geschichte unseres Landes", an "unsere deutsche Verantwortung" erinnert:

Ich sage es hier ganz klar: Ja: Aus unserer Geschichte, aus der deutschen Schuld für Krieg und Völkermord erwächst für uns, erwächst für mich in der Tat eine besondere Verantwortung: Und zwar die Verpflichtung, jenen zur Seite zu stehen, deren Leben, deren Freiheit und deren Rechte bedroht sind.

Ganz im Sinne der vom Bundeskanzler angesagten Zeitenwende vollzieht sich heute dieser Aufbruch zur Bekämpfung der östlichen Gefahr im Bündnis und nicht – wie 1941 – im Alleingang, wobei die deutsche Initiative natürlich nicht verschwiegen werden darf. Baerbock:

Die Europäische Union formuliert derzeit erstmals so ausführlich wie noch nie eine sicherheitspolitische Strategie. Die Initiative dazu hat unser Land, hat Deutschland vor einiger Zeit ergriffen. Und dieser Strategische Kompass, der jetzt auf dem Tisch liegt und natürlich nochmal angepasst wird, muss und wird den neuen Realitäten auf unserem Kontinent Rechnung tragen.

Zu beachten ist bei diesem Statement auch, dass der militaristische Aufbruch zu neuen Ufern bereits geraume Zeit "vor Putins Rückfall auf eine militärische Politik" (Herfried Münkler, swr.de, 25.2.22) stattfand, also keine bloße Reaktion darstellt

Weltweite Demonstrationen gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine (21 Bilder)

Washington, D.C. am 6. März. Bild: Frypie / CC-BY-SA-4.0

Deutschland blickt als selbstbewusste Nation nach vorn, auf die vor ihm liegenden Aufgaben – europäische Aufrüstung, Aufstellung als führende Militärmacht, – und nicht schuldbewusst zurück. Genauer gesagt, man blickt nach Russland, entdeckt einen Präsidenten, "der zunehmend in Nazi-Jargon verfällt" (General-Anzeiger, 21.3.22), und damit die eigene deutsche Vergangenheit.

Denn: Putin ist der neue Hitler, wahlweise der größte Kriegsverbrecher aller Zeiten, und hierzulande gibt es kaum Kritik an Selenskyjs Diagnose, dass die russische Führung die "Endlösung" der Ukraine-Frage betreibt.

Ganz neu ist das freilich auch nicht. Schon 1999 hatte Baerbocks Vorläufer, der grüne Außenminister Fischer, beim Überfall auf Serbien vorexerziert, wie man per Krieg einen Holocaust verhindert. Aber jetzt ist der Gegner natürlich ein anderes Kaliber und die Aufgabe von weltpolitischer Dimension.