Wie Deutschland (gefühlt) zum Teil der Anti-Hitler-Koalition 2.0 wurde
Seite 2: Russischer Faschismus?
Die Zeit (Nr. 12/22) hat bei der Gleichung "Putin = Hitler" daher tiefer gebohrt und mit Hilfe des US-Historikers Timothy Snyder Bemerkenswertes zur Genese des aktuellen russischen Faschismus zu Tage gebracht. Die zentrale Gestalt ist demnach der russische Philosoph Iwan Iljin (1883-1954), ein strammer Antikommunist, der seinerzeit die orthodoxe Kirche und den Faschismus verherrlichte.
"Heute inspiriert er das Denken und Handeln Wladimir Putins… Der russische Präsident bezieht sich seit 2005 in Reden auf ihn. Vor der Annexion der Krim stattete er seine Beamten mit Iljins Aufsatzband Unsere Aufgaben aus."
Ja, nicht nur der Ukraine-Krieg sei von diesem faschistischen Nationalideologen inspiriert, sondern mit seiner Philosophie in der Hinterhand betreibe Putin allerlei subversive Aktivitäten im Internet und anderswo, so dass "die Krise der westlichen Demokratien und das Erstarken der rechten sadopopulistischen Bewegungen" hier bei uns letztlich den russischen Manipulationen zuzuschreiben seien. Ob Trump, ob Brexit oder das generelle Erstarken des Rechtspopulismus in der "freien Welt" – immer steckt also der Russe dahinter!
Der Hochschullehrer Micha Brumlik dagegen weiß, dass "der Philosoph hinter Putin" (taz, 4.3.22) Alexander Dugin heißt: "Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ist es höchste Zeit, Wladimir Putin als einen Revolutionär im Geiste des rechtsextremen Dugin zu begreifen."
Kein Zufall soll es außerdem sein, dass der Nationalideologe Dugin zu einem Vordenker der Rechtsradikalen in Deutschland wurde, "plädiert dieser doch für eine radikale Umkehr des politischen Denkens, für eine ‚Kehre‘, weswegen er immer wieder auf den – auch hier von der Neuen Rechten hochgeschätzten – Philosophen Martin Heidegger verweist."
Dugin veröffentlichte 2011 in Russland das Buch "Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie" und indoktrinierte so laut Brumlik nicht nur Putin, sondern auch deutsche Ideologen: "Über Dugin hat Heideggers Denken Eingang in die Ideologie der deutschen Identitären gefunden."
Die Entdeckung des russischen Rechtsextremismus passt auch gut ins Bild, das die hiesigen Medien gegenwärtig vom Krieg in der Ukraine und von dessen nationalen Helden zeichnen. Man kann es nämlich nicht mehr ganz verschweigen, dass sich dort, etwa beim Asow-Regiment, Rechtsradikale heimischer wie ausländischer Herkunft tummeln.
Ungerührt wird ja auch hierzulande mitgeteilt, dass um den faschistischen Helden Stepan Bandera ein Nationalkult veranstaltet wird. Von "Bandera-Smoothies", mit denen der Volkswiderstand Putins Panzertruppen begrüßt, schreibt die deutsche Presse (General-Anzeiger, 2.3.22). Der ukrainische Botschafter Melnyk legt am Grab des OUN-Faschisten Bandera Blumen nieder etc. pp. Das wird inzwischen schon mal in der deutschen Presse kritisiert (vgl. FR, 22.3.22 sowie ein Telepolis-Kommentar), die sich bei Kriegsbeginn fassungslos gab, wieso Putin von einer Entnazifizierung der Ukraine sprechen konnte.
Jetzt heißt es an die russische Adresse gerichtet: Selber Nazis! Bei euch zu Hause gibt es viel mehr Rechtsradikale als in der Ukraine, wo sie eigentlich harmlos, da ins reguläre Militär integriert sind.
Am erstaunlichsten im Blick auf die deutsche Situation sind allerdings Aussagen von Snyder oder Brumlik, die im russischen Faschismus gleich noch die Brutstätte entdecken, aus der die hiesigen rechten Ableger hervorgegangen sein sollen. Der Russe Dugin hat Heideggers Denken in die neueste deutsche Ideologie am rechten Rand eingeführt!? War dieser alte Nazi-Philosoph denn hierzulande unbekannt? Fehlt da nicht ein ganzes Kapitel?