Wie die EU-Abschottung gegen Migranten im Sahara-Sand stecken bleibt

Migranten in Niger, die in Algerien gewaltsam festgenommen, zur nigerianischen Grenze transportiert und ohne Unterstützung in der Sahara zurückgelassen wurden, Februar 2019

Migranten in Niger, die in Algerien gewaltsam festgenommen, zur nigerianischen Grenze transportiert und ohne Unterstützung in der Sahara zurückgelassen wurden, Februar 2019. Bild: Nicole Macheroux-Denault / Shutterstock.com

Seit Putschen u.a. in Niger verliert EU Kontrolle über Migration Richtung Libyen. Deals werden aufgekündigt. Tausende sterben in Wüsten. Was folgt daraus? Gastbeitrag.

Sabah, Libyen, ist eine Oasenstadt am nördlichen Rand der Saharawüste. Am Rande der Stadt zu stehen und nach Süden in die Wüste Richtung Niger zu blicken, ist unheimlich.

Wie durch ein Wunder

Der Sand erstreckt sich bis ins Unendliche, und wenn ein Wind aufkommt, hebt er den Sand an, um den Himmel zu bedecken. Autos fahren auf der Straße an der al-Baraka-Moschee vorbei in die Stadt.

Vijay Prashad ist ein indischer Historiker, Redakteur und Journalist.

Einige dieser Autos kommen aus Algerien (obwohl die Grenze oft geschlossen ist) oder vom Djebel al-Akakus, dem Gebirge, das sich am westlichen Rand Libyens erstreckt. Gelegentlich fährt auch ein weißer Toyota-Lkw mit Männern aus der afrikanischen Sahelzone und aus Westafrika in Sabah ein.

Wie durch ein Wunder haben es diese Männer durch die Wüste geschafft, weshalb viele von ihnen aus ihrem Lastwagen klettern und in verzweifeltem Gebet auf den Boden fallen. Sabah bedeutet auf Arabisch "Morgen" oder "Verheißung", ein passendes Wort für diese Stadt am Rande der riesigen, wachsenden und gefährlichen Sahara.

Mindestens 8.000 tote Migranten in 2023

Seit einem Jahrzehnt sammelt die Internationale Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen Daten über den Tod von Migranten. Dieses Projekt für vermisste Migranten veröffentlicht jedes Jahr seine Zahlen, und im April dieses Jahres hat es seine neuesten Zahlen veröffentlicht.

In den letzten zehn Jahren sind laut IOM 64.371 Frauen, Männer und Kinder auf ihrer Reise gestorben (die Hälfte von ihnen im Mittelmeer). Im Durchschnitt sind seit 2014 jedes Jahr 4.000 Menschen gestorben.

Im Jahr 2023 stieg diese Zahl jedoch auf 8.000 an. Einer von drei Migranten, die aus einem Konfliktgebiet fliehen, stirbt auf dem Weg in die Sicherheit.

Diese Zahlen sind jedoch stark unterschätzt, da die IOM das, was sie als "irreguläre Migration" bezeichnet, einfach nicht erfassen kann. So räumt die IOM ein, dass "einige Experten glauben, dass mehr Migranten bei der Durchquerung der Sahara sterben als im Mittelmeer".

Sandstürme und Bewaffnete

Abdel Salam, der in der Stadt ein kleines Geschäft betreibt, deutet in die Ferne und sagt: "In dieser Richtung liegt Toummo", die libysche Grenzstadt zu Niger. Er streicht mit den Händen über die Landschaft und erklärt, dass sich in der Region zwischen Niger und Algerien der Salvador-Pass befindet, über den Drogen, Migranten und Waffen hin- und hergeschoben werden, ein Handel, der viele der kleinen Städte in der Region, wie Ubari, bereichert.

Mit der Erosion des libyschen Staates seit dem Nato-Krieg im Jahr 2011 ist die Grenze weitgehend durchlässig und gefährlich. Von hier aus verlegte der Al-Qaida-Führer Mokhtar Belmokhtar 2013 seine Truppen aus dem Norden Malis in die libysche Region Fezzan (er soll 2015 in Libyen getötet worden sein).

Es ist auch das Gebiet, das von den Al-Qaida-Zigarettenschmugglern beherrscht wird, die Millionen von in Albanien hergestellten Kleopatra-Zigaretten über die Sahara in die Sahelzone transportieren (Belmokhtar war beispielsweise als "Marlboro-Mann" für seine Rolle in diesem Handel bekannt).

Ab und zu fährt ein Toyota-Lkw in die Stadt. Aber viele von ihnen verschwinden in der Wüste, als Opfer der schrecklichen Sandstürme oder von Entführern und Dieben. Niemand kann dieses Verschwinden verfolgen, da niemand weiß, dass es überhaupt passiert ist.

Io Capitano

Matteo Garrones Oscar-nominierter Film Io Capitano (2023) erzählt die Geschichte von zwei senegalesischen Jungen – Seydou und Moussa –, die vom Senegal über Mali, Niger und Libyen nach Italien gelangen, wo sie inhaftiert werden, bevor sie in einem alten Boot über das Mittelmeer nach Italien fliehen.

Garrone baute die Geschichte auf den Erzählungen mehrerer Migranten auf, darunter Kouassi Pli Adama Mamadou (von der Elfenbeinküste, der heute als Aktivist in Caserta, Italien, lebt). Der Film scheut sich nicht, die raue Schönheit der Sahara zu zeigen, die das Leben von Migranten fordert, die von Europa noch nicht als Migranten angesehen werden.

Der Schwerpunkt des Films liegt auf der Reise nach Europa, obwohl die meisten Afrikaner innerhalb des Kontinents migrieren (21 Millionen Afrikaner leben in Ländern, in denen sie nicht geboren wurden).

Io Capitano endet mit einem Hubschrauber, der über das Schiff fliegt, während es sich der italienischen Küste nähert. Es wurde bereits von anderen darauf hingewiesen, dass der Film die rassistische Politik, die Seydou und Moussa begrüßen wird, nicht behandelt. Was im Film nicht gezeigt wird, ist, wie die europäischen Länder versucht haben, eine Festung in der Sahelzone zu errichten, um die Migration nach Norden zu verhindern.

Open-Air-Friedhof

Nach dem Sturz des libyschen Staates im Jahr 2011 und dem harten Durchgreifen an der marokkanisch-spanischen Grenze bei Melilla und Ceuta haben immer mehr Migranten die Route Niger-Libyen gewählt.

Vor einem Jahrzehnt richteten die europäischen Staaten ihre Aufmerksamkeit auf diese Route und versuchten, in der Sahara eine europäische "Mauer" gegen die Migranten zu errichten. Ziel war es, die Migranten zu stoppen, bevor sie das Mittelmeer erreichen, wo sie für Europa zu einem moralischen Problem werden.

Unter der Führung Frankreichs schlossen sich 2014 fünf Sahel-Staaten (Burkina Faso, Tschad, Mali, Mauretanien und Niger) zur G5 Sahel zusammen. Im Jahr 2015 verabschiedete die Regierung von Niger auf französischen Druck das Gesetz 2015-36, das die Migration durch das Land kriminalisiert.

Die G5 Sahel und das Gesetz in Niger wurden von der Europäischen Union finanziert, um Überwachungstechnologien bereitzustellen, die in Europa illegal sind und in dieser Gruppe von Ländern gegen Migranten eingesetzt werden sollen. Im Jahr 2016 errichteten die Vereinigten Staaten im Rahmen dieses Anti-Migrationsprogramms in Agadez, Niger, die größte Drohnenbasis der Welt.

Nach den Staatsstreichen: Die "EU-Mauer" bröckelt

Im Mai 2023 untersuchte Border Forensics die Wege der Migranten und stellte fest, dass die Sahara aufgrund der Gesetze in Niger und dieser anderen Mechanismen zu einem "Open-Air-Friedhof" geworden sei.

In den letzten Jahren hat all das jedoch begonnen, sich aufzulösen. Die Staatsstreiche in Guinea (2021), Mali (2021), Burkina Faso (2022) und Niger (2023) führten zur Auflösung der G5 Sahel und zur Forderung nach dem Abzug der französischen und US-amerikanischen Truppen. Im November 2023 hob die nigrische Regierung das Gesetz 2015-36 auf und ließ alle Personen frei, die beschuldigt worden waren, Schmuggler zu sein.

Abdourahamane, ein lokaler Großgrundbesitzer, steht neben der Großen Moschee in Agadez und spricht über die Migranten. "Die Menschen, die hierherkommen, sind unsere Brüder und Schwestern", sagt er. "Sie kommen. Sie ruhen sich aus. Sie gehen wieder. Sie bringen uns keine Probleme."

Die aus Lehm gebaute Moschee trägt die Spuren der Wüste in sich, sie ist aber nicht auf der Durchreise. Abdourahamane erzählte mir, dass sie auf das 16. Jahrhundert zurückgeht, lange bevor das moderne Europa geboren wurde.

Viele der Migranten kommen hierher, um ihren Segen zu erhalten, bevor sie Sonnenbrillen kaufen und sich auf den Weg durch die Wüste machen, in der Hoffnung, dass sie es durch den Sand schaffen und ihr Schicksal irgendwo am Horizont finden.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Globetrotter. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Vijay Prashad ist Stipendiat und Chefkorrespondent bei Globetrotter. Er ist Herausgeber von LeftWord Books und Direktor von Tricontinental: Institute for Social Research. Er ist Senior Non-Resident Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies der Renmin University of China. Er hat mehr als 20 Bücher geschrieben, darunter "The Darker Nations und The Poorer Nations". Seine jüngsten Bücher sind "Struggle Makes Us Human: Learning from Movements for Socialism" und (mit Noam Chomsky) "The Withdrawal: Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".