Wie die Städte dahin laufen lernen, wo sie gebraucht werden
- Wie die Städte dahin laufen lernen, wo sie gebraucht werden
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Können unsere Städte auch ohne Innenstädte existieren? Kaufen wir nach den Krisen wieder in Kaufhäusern ein? Wie Stadt neu zu denken ist.
Die Prognosen sind so verschieden wie die Mentalitäten der Stadtbewohner. Die Stadtforscher stehen nicht nach. Um eine Lösung der Streitfrage zu finden, wäre ein Blick zurück auf die Antike lohnend: Die Ruinen des Alten tragen den Keim des Neuen in sich.
Das hindert das Alte nicht daran wiederzukehren. Die Digitalisierung hat dafür gesorgt, dass Zeit nicht mehr an der Strecke zu bemessen ist, die zurückgelegt wird. Vielmehr fällt die Zeit mit dem Raum zu einer "Raumzeit" zusammen. Dieser Moment kann sich überall abspielen, er ist ubiquitär. Die Corona-Epidemie brachte es physisch zum Vorschein. Home office ist überall und nirgends.
Wohnort und Arbeitsort fallen zusammen und folgen damit dem historischen Vorbild. Die Industrialisierung riss die Massen aus ihren ländlichen Umgebungen und konzentrierte sie in den Städten, als "industrielle Reservearmee", denn ob sie in den Produktions-Etablissements Arbeit fanden, stand auf einem anderen Blatt.
Homeoffice: Das Neue ist das Alte
Die Kombination von Arbeiten und Wohnen ist heute noch am Aufbau mancher Altbaubestände ablesbar. Produziert wurde im Hinterhaus.
Die Wohn- und Arbeitsverhältnisse waren gerade wegen ihrer Nähe bedrückend, zumal der Faktor Freizeit fehlte. Aber in den Zwanziger Jahren zeigte sich, dass diese städtebaulichen Strukturen auch Erholung zuließen.
Der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner hatte gestaffelte Vorgaben publiziert, wie weit das nächste Grün vom (Arbeiter-)Haushalt maximal entfernt liegen solle. Dies ist ein früher Fall der "Stadt der kurzen Wege".
Die 15-Minuten Stadt
Inzwischen ist daraus das ausgefeilte Konzept der 15-Minuten-Stadt geworden. Kein städtisches Ziel sollte zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem ÖPNV in mehr als einer Viertelstunde zu erreichen sein.
Selbst wenn in der motorisierten Dienstleistungsgesellschaft Wohnort und Arbeitsort wieder auseinandergefallen sind, gibt es doch ein gemeinsames Drittes. Der Dritte Ort steht vermittelnd über der Zweiheit. Er ist "weder noch" und deutet eine Freiheit an, die in die Zukunft weist. Es ist der Ort der zivilen Begegnung und der politischen und kultischen Gemeinschaft.
In Griechenland war es der zentrale Ort des Handels und des Aushandelns der Wege, die dem Gemeinwesen vorgezeichnet sind. Auch die Gerichtsbarkeit wurde auf der Agora ausgeübt. Das wurde im Mittelalter übernommen.
Die Frage nach mangelnder Aufenthaltsqualität des Zentrums stellte sich den Griechen nicht. Sie kam erst in der Moderne auf, als die Innenstädte zur "Umkleidekabine" der Stadt geworden waren. Und diese Beherrschung durch eine Monokultur scheint nun ebenfalls überholt zu sein.
Leerstände und steigende Kosten
Die Infrastrukturen, Dienstleistungen und Funktionen, welche die Städte traditionell boten, schmelzen wegen zunehmender Leerstände und steigender Kosten ab. Gerade sind Krankenhäuser im Fokus.
Eine Zentralisierung der verbliebenen Funktionen würde die Erreichbarkeit für die meisten Menschen erschweren und zumindest die Innenstädte großer Städte unnahbar machen, etwa durch Hochhaus-Agglomerationen. Werden diese zu Wohnzwecken umgerüstet, bilden sich dort tendenziell Gated communities heraus. Es wären abgeschottete Städte in der Stadt.
Die Bündelung von Funktionen sollte vielmehr mit einer regionalen Dezentralisierung einhergehen. Die Hegemonie der Innenstädte wäre gebrochen, und die Anwohner fänden, was sie brauchen, "vor Ort".
Stadtteilzentren, Nebenzentren und Quartierszentren befänden sich auf einer Ebene mit dem Innenstadtzentrum. Die traditionelle Hierarchie wäre aufgehoben. Die Kleinteiligkeit und Nahräumlichkeit des Gewerbelebens würde sich auf die Stadtplanung auswirken und umgekehrt.
Insel-Urbanismus
Die Verinselung zu einer Patchwork- oder Mosaikstadt könnte auch, wenn gut durchdacht, auf Suburbia übergreifen, damit diese nicht in den Streuelementen eines Siedlungsbreis erstickt.
Auch dieser Insel-Urbanismus ist nicht ohne Vorläufer. 1977 schlug Oswald Mathias Ungers einen "Grünen Stadtarchipel" vor, bestehend aus Gebäudeinseln, die von einem Meer dichter Vegetation umgeben sein würden. Die utopischen Elemente dieses Archipels schöpfen ihrerseits aus einer noch älteren realen Dystopie.
Für das zerbombte Berlin schlug gleich nach dem Krieg der verantwortliche Stadtplaner Hans Scharoun einen kompletten Wiederaufbau als "Bandstadt" vor. Er entwarf ein rechteckiges Raster aus Schnellstraßen, die durch eine grüne – und blaue – Stadtlandschaft führen sollten.
War das Zusammenkarren der Trümmer zu kleinen und großen künstlichen Hügeln die Inspirationsquelle für diesen "Grid"? Vereinzelt haben sich Trümmerberge bis heute erhalten, versteckt unter Parkgrün.
Aus dem Schneisensystem wurde allerdings die autogerechte Stadt. Mit ihrer großräumigen Funktionsteilung in Wohnen, Arbeiten und Freizeit und den langen Wegen dazwischen stellt sie eine schwere Hypothek des Städtebaus bis heute dar.
Das Diktat des autogerechten Stadtmodells
Um die Innenstädte zukunftstauglich zu machen, wäre es angezeigt, sich schrittweise vom Diktat des autogerechten Stadtmodells zu verabschieden. Entsprechende Impulse werden stärker, wenn sie auch nach wie vor auf Widerstände stoßen. Der Straßenraum wäre der gleichberechtigten Nutzung durch alle Verkehrsmittel und -teilnehmer zu widmen.
Das wäre ein Signal, an der Stelle von Stadtautobahnen und großdimensionierten gewerblichen Konsumangeboten einen kleinteiligen Nutzungsmix in nachbarschaftlicher Umgebung aufzubauen.
"Superblocks" wie in Barcelona tragen dazu bei, mehr Platz im Straßenraum etwa für eine blau-grüne Infrastruktur zu schaffen. Eine Stadt sollte durch ihre Plätze kenntlich gemacht werden. Dazu müssten diese von ihrer Rolle als Aufmarschgebiete für den Kfz-Verkehr entbunden werden.