Wie die Städte dahin laufen lernen, wo sie gebraucht werden

Seite 4: Die Flüchtigkeit der Planung

Kein bisschen dystopisch waren dagegen die wilden Entwürfe der 60er-Jahre. Aber waren es Phantastereien? Sicherlich, jedoch hatten sie Methode. Archigram dachte sich das Unmögliche aus, um das Wirkliche umzuschaffen. Das gelingt nur unter dem Vorbehalt, dass das Wirkliche nie fertig wird. Das Geplante wird gut, wenn es eine Reflexion auf das Unplanbare darstellt.

Ein Beispiel, wie es nicht gemacht werden soll, ist die "Leipzig Charta" zur nachhaltigen europäischen Stadt von 2007/2020. Aus einem Perfektionsdrang heraus bietet der Text zur Stadtentwicklung alles und nichts, aber das in schönen Worten.

Die Verszeilen von Bertolt Brecht lesen sich wie eine Parodie auf dieses Elaborat:

Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großes Licht! / Und mach dann noch 'nen zweiten Plan, / gehn tun sie beide nicht.

Entwickeln sich unsere Städte unabhängig von – zerplatzenden oder rissigen – Plänen, oder gibt es nicht jenseits aller Spontaneität doch eine Macht, die mit unsichtbarer Hand die Geschichte der Städte und die Geschicke der Innenstädte lenkt, wie es der Liberalismus behaupten würde?

Das Wirkliche wird nie fertig

Der klassische Liberalismus hat sich insofern selbst überholt, als es Bereiche gibt, in denen sich statt einer ausgleichenden Selbstregulierung Monostrukturen herausgebildet haben. Das ist vor allem der Immobiliensektor. Er bestimmt über die Grundstückswerte das Marktgeschehen (nicht nur) im Konsumsektor.

Das in Immobilien investierte Kapital ist ein Durchlauferhitzer. Es löst immer schnellere Zirkel aus Käufen und Verkäufen aus. Die Gewinne sind spekulativ. Sie werden zur Funktion eines ständigen Mehr oder Weniger.

Marx spricht vom sich selbst verwertenden Wert. Der kommunal basierte Städtebau kann mit dieser Investorenlogik nicht Schritt halten. Die Innenstädte verfallen weiter, und wenn im gewerblichen Bereich etwas neu gebaut wird, ist es ein stilistisches Einerlei.

Wenn gar nichts mehr geht, kann das ein Zeichen sein, dass es weitergeht. Bauen heißt verfallen. Nach Robert Smithson trifft sogar das Umgekehrte zu, und in den Ruinen von heute liegt der Schlüssel zu Künftigem.

Das Unfertige nicht durch Kulissen verdecken

Das Unfertige, Brüchige der Stadt sollte nicht durch Kulissen verdeckt werden, wie es in der Rekonstruktionsarchitektur so gerne geschieht.

Die Stadt treibt ins Offene und wird zum Anders-Ort (Heterotopie) für den, der nie ganz ankommt und die flüchtigen Momente genießen kann. Walter Benjamin: Trotz ihrer Steinschwere sind Städte "empfindlich wie eine Äolsharfe für die lebendigen historischen Luftschwingungen".

Diese Fremdheitserfahrung trifft nicht etwa nur auf Migranten zu, sondern auf jeden, der sie akzeptiert und produktiv anwendet. Künstler wie Stadtnomaden sind die Avantgarde jener Erfahrung. Sie wandeln sie in kreative Prozesse um. Sie sind aber auch Opfer der Gentrifizierung geworden, die sie aus den Innenstädten vertrieb. Zugleich wurden sie zum Aushängeschild des Stadtmarketings.

Aushängeschilder des Stadtmarketings werden Opfer der Gentrifizierung

Zum Schminken der siechen Stadt sollten die Bildenden Künstler, jungen Kreativen usw. nicht missbraucht werden. Man sollte sie jedoch von der Peripherie zurückholen, um ihre schöpferische Expertise in einen Dialog aller gesellschaftlich relevanten Gruppen einzubringen. Das wäre der gemeinsame Tisch. Es ist Zeit für einen ganzheitlichen Ansatz.

Die Städte wären dann nicht nur funktional und ökonomisch definiert, sondern auch spielerisch und faszinierend in ihren Widersprüchen. Die Mischung macht es. Die Rekonvaleszenz der Innenstädte sollte in homöopathischen Dosen erfolgen. Damit die Städte lernen, wieder dorthin zu laufen, wo sie gebraucht werden.