Wie die Zeitung von gestern

Richard Powers' Roman "Schattenflucht" demonstriert Virtualisierungsprosa und Genies, scheitert aber an einer glaubhaften Darstellung des Politischen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Außer vielleicht die vorletzte Programmversion der neusten Software. Oder die technische Utopie der letzten Dekade. Gab es wirklich einmal eine Zeit, in der Menschen mit klobigen Headsets und Datenhandschuhen durch virtuelle Nachbildungen von Straßenzügen und Palästen laufen wollten? Eine Zeit, in der die Realität als schlecht gerendertes Auslaufmodell galt und der Sex mit Hologrammen als ideale Interaktionsform? Gab es wirklich je einen Menschen, der eine feinpixelige Rose ohne Dornen einem realen Blutstropfen vorgezogen hat?

Wer Richard Powers' Roman "Schattenflucht" zur Hand nimmt, sollte zumindest noch eine vage Erinnerung an die späten 80er und frühen 90er Jahre des letzten Jahrhunderts haben, die Blütezeit des bunten Cyberspace, der Virtual Reality und des unbeschränkten Fortschrittglaubens. Große Teile der Handlung spielen 1989 in Seattle, wo eine Hand voll begnadeter Angestellter der Firma TeraSys im so genannten Realization Lab (RL) an der Realität 2.0 herumbastelt.

In seinem mittlerweile siebten Roman hat sich Richard Powers also wieder in eines jener technischen Zwischenreiche begeben, für deren Darstellung er mittlerweile berühmt ist. Ob er sich nun in "The Gold Bug Variations" dem genetischen Code widmet oder in "Galatea 2.2" der Künstlichen Intelligenz, immer sucht Powers auf aufregende Weise die zwei Welten der Wissenschaft und der Kunst zusammenzuführen. Auch "Schattenflucht" glänzt wieder mit seinem Reichtum an Metaphern, die komplizierte technische Vorgänge anschaulich machen, mit der Fülle an literarischen und kunsthistorischen Assoziationen, die die Arbeit der VR-Pioniere in eine Traditionslinie mit antiker Architektur, Vincent van Gogh und William Butler Yeats stellen.

Was jedoch fehlt in Powers' Virtualisierungstheater, ist eine glaubhafte Darstellung des Politischen, eine soziale Reibefläche, die dem Geschehen eine glaubhafte dritte Dimension hinzugefügt hätte. Woran es den Figuren mangelt, allen voran der Heldin Adie Klarpol, der Künstlerin des Teams, ist das Bewusstsein, keineswegs in einem herrschaftsfreien Bereich zu arbeiten, sondern Teil eines militärisch-ökonomischen Komplexes zu sein. Es mag ja sein, dass grenzenloser Idealismus und ungetrübte Naivität damals zum Rüstzeug gehörten, aber gepaart mit der für Powers' Figuren typischen Genialität, wird daraus ein über weite Strecken ungoutierbarer Mix. Es wird irgendwann einfach langweilig, ach so begnadete Amis in einer Weise über das utopische Potenzial ihrer Weltverbesserungsmaschine schwadronieren zu hören, die man schon damals für schlechte PR gehalten hat.

Natürlich ist Richard Powers aufgeklärter als seine Figuren. Ganz bewusst hat er die Handlung zu einer Zeit angesiedelt, in der nicht nur der VR-Hype auf seinem Höhepunkt war, sondern die Welt im Umbruch. Ab und zu versammeln sich Adie und ihre Kollegen mit staunenden Gesichtern vor ihren Bildschirmen, um die weltpolitischen Umwälzungen zu verfolgen: die Studentenunruhen in China und das Massaker auf dem Tienanmen-Platz, das Zusammenbrechen des Ostblocks, der Fall der Mauer. Während also im RL an der großen Orakel-Maschine gebaut wird, die alle Eventualitäten vorherberechnet und schön übersichtlich und grafisch ansprechend auf den Betrachter ausrichtet, findet auf der Weltbühne ein geopolitischer Paradigmenwechsel statt. An die Stelle der kalkulierbaren, bipolaren Ordnung des Kalten Krieges tritt eine neue Unübersichtlichkeit.

Es ist ein zweiter, um einiges interessanterer Handlungsstrang des Romans, der sich wenigstens ansatzweise dieser politischen Unübersichtlichkeit widmet. Er dreht sich um den Lehrer Taimur Martin, der auf der Flucht vor einer gescheiterten Beziehung aus den USA nach Beirut zieht, um dort an einer Schule zu unterrichten. Schon bald wird er entführt und in einen kleinen Raum gesperrt. Aus dem unbeteiligten Beobachter wird so selbst ein Akteur auf der politischen Bühne, wenn auch ein äußerst passiver.

Beirut steht für Powers wie auch schon für Don DeLillo in "Mao II" als paradigmatischer Ort des Verlusts amerikanischer Unschuld. Mit ihrer unüberschaubaren Menge an politischen und religiösen Parteien und Splittergruppen erscheint die libanesische Hauptstadt als Hort des unkontrollierbaren Anderen, das Moskau endgültig abgelöst hat. Das machen schon Taimur Martins Gedanken bei seiner Ankunft deutlich:

"Die Politik dieses Landes gleicht einem unüberschaubaren Basar aus Ali Babas Reich, und wenn man sie überlebt, dann nur durch einen Zufall. Hier verlieren sich die Grundregeln der Zivilisation im Nebel der Fantasie."

Leider verlieren sich dort auch die politischen Ambitionen des zweiten Handlungsstrangs. Mag Martin auch nach einiger Zeit den Namen der Gruppe seiner Entführer erfahren, darüber hinaus interessiert sich sein Autor nicht für die politischen Begebenheiten des Nahen Ostens. Powers geht es vielmehr um eine möglichst nahtlose Analogisierung der Virtualisierungs-Bemühungen des RL und der erzwungenen Fantasiereiche eines Mannes mit Augenbinde. Der dunkle, klamme Raum des Gefangenen wird zu einem Erinnerungspalast, der dem Realization Lab an Detailreichtum, sensorischer Fülle und emotionaler Echtheit in nichts nachsteht.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Richard Powers ein Meister darin ist, den komplexen Strukturen menschlicher Erinnerung nachzuspüren, die fantasierten und projizierten Bilder seiner Protagonisten lebendig werden zu lassen, Analogien zwischen technischen und mentalen Netzwerken zu schaffen. Warum dann nur diese Langeweile über weite Strecken, diese Ungeduld mit der Naivität der meisten Figuren, das Schulterzucken gegenüber so viel literarischer Bravoura? Vielleicht liegt es daran, dass Richard Powers neben all den Themen, die "Schattenflucht" streift, gerade die Politik weiter als sonst in den Vordergrund zu schieben versucht. Und daran scheitert.

Die "Schattenflucht" seiner Figuren, dieses sehr amerikanische Bemühen, sich in einen widerspruchsfreien utopischen Raum hineinzufantasieren, in dem die domestizierten Fantome der Vergangenheit auf Abruf bereitstehen und die Zukunft komplett berechenbar ist, prägt auch den Roman als Ganzes. Welches politische Geschehen auch in die Mangel von Powers' perfekter Virtualisierungsprosa gerät, es endet als ideale Landschaft, wohlproportioniert und übersichtlich. Mag sich die Welt noch so sehr verändern und Beirut noch so chaotisch erscheinen, Powers' immer präsenter Glaube an die Macht der menschlichen Fantasie und Kreativität verschönt noch jedes Drecksloch mit einem idealistischen Anstrich.

Aber natürlich ist es zu viel verlangt, von einem Roman neben ansprechender Prosa auch klare politische Analysen zu verlangen. Es ist wohl nur so, dass sich in den Figuren ein so froher Schaffensdrang, eine so aufrechte Naivität, so viel Begabung manifestiert, dass es einem einfach zu viel wird. Adies Enthusiasmus wird nur noch durch ihre Betroffenheit angesichts des Unrechts in der Welt übertroffen, es wimmelt nur so genialen Schöpfern in Powers' Welt. Das liest sich manchmal wie ein Trash-Roman auf dem höchsten Niveau, wo unter den hehrsten Gefühlen und gewaltigsten Visionen nichts eine Berechtigung hat. Das ist eben nicht mehr zeitgemäß. Wie die Zeitung von gestern.

Richard Powers: "Schattenflucht". Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer Verlag, 543 Seiten, 24,90 Euro