Wie ein US-Think-Tank sein antirussisches Feindbild konstruiert

John Hamre, Präsident und CEO des Center for Strategic and International Studies. Bild: Ajswab/CC BY-SA-3.0

Korruption als ökonomische Kriegsführung, Teil 1

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Russlands wirtschaftlicher Einfluss in Mittelosteuropa ist prinzipiell schädlich. Putins Regierung benutzt Korruption, um die liberalen Werte des Westens zu diskreditieren und Nato und EU zu spalten. Die Studie "The Kremlin Playbook" des "Center for Strategic and International Studies" (CSIS) will diese Behauptungen u.a. an Lettland aufzeigen. Doch die Beweise sind dürftig, stattdessen folgen antirussische Mutmaßungen.

Die Markierungsfunktion der PDF-Datei "The Kremlin Playbook" ist gesperrt. Man ärgert sich, zum genaueren Lesen die 99 Seiten ausdrucken zu müssen. Das ist viel sinnlos verbrauchtes Papier, auf dem die eingangs erwähnten Behauptungen in zahlreichen Wiederholungen ganzer Abschnitte ausgewälzt werden. Die vier Autoren benötigten nach eigener Darstellung ganze 16 Monate, um ihre meinungsstarke Warnung vor Russland zu formulieren.

Wer investigative Recherche und Zitate aus Geheimpapieren des Kremls erwartet, wird von dieser Ansammlung von Mutmaßungen schnell enttäuscht sein. Dafür, dass die russische Regierung systematisch plane, mit Oligarchen-Wirtschaft und Korruption die Nachbarländer zu destabilisieren, wird nirgends ein schlüssiger Beweis geliefert.

Seit dem 13.10.2016 lässt sich die Playbook-Studie vom CSIS-Server herunterladen. Noch am selben Tag verbreitete eine Reuters-Meldung deren Kernthese: In einigen Ländern sei der Einfluss Russlands derart beherrschend und "endemisch" geworden, dass er sowohl die nationale Stabilität als auch die westliche Orientierung und die euro-atlantische Stabilität in Frage stelle. Journalisten der Tagespresse kolportierten wiederum diese Reuters-Meldung. So bietet "The Kremlin Playbook" ein Beispiel für die spekulative Stimmungsmache, die den Konflikt zwischen dem Westen und Russland anheizt.

Welle des Kritizismus' und Anti-Amerikanismus'

Die CSIS-Autoren zitieren vorangestellt zwei Sätze aus einer Rede, die Barack Obama im September 2014 in der estnischen Hauptstadt Tallinn hielt: "Wir sind stärker, weil wir Demokratien sind," und: "Wir sind stärker, weil wir offene Wirtschaftsformen befürworten."

Das sind Sätze ganz nach dem Geschmack der osteuropäischen Spitzenpolitiker, die 2009 einen offenen Brief an Obama schrieben. Diese fürchteten damals, dass sich der gerade gewählte US-Präsident dem pazifischen Raum zuwenden und von Europa abkehren könne.

Sie beklagten, dass nach den Bush-Jahren eine Welle des Kritizismus' und Anti-Amerikanismus' auch in ihre Region geschwappt sei. Einige osteuropäische Leader müssten nun den Preis für ihre Unterstützung des unpopulären Irak-Krieges zahlen. Sie forderten eine Renaissance der transatlantischen Beziehungen, ein enges Verhältnis Europas zu den USA, eine Stärkung der Nato, die sich im Georgien-Konflikt geschwächt gezeigt habe und sie appellierten, dem Beistandsparagraphen 5 der Nato mit militärischem Engagement an der Ostgrenze Nachdruck zu verleihen.

Die Politiker ermunterten Obama, ohne Rücksprache mit der russischen Regierung in Tschechien und Polen die geplante Raketenabwehr zu installieren. Die CSIS-Autoren stellen auch daraus der eigenen Studie eine Stelle voran, die sich auf den ungeliebten Nachbarn im Osten bezieht:

[Russland] benutzt offene und verdeckte Mittel der ökonomischen Kriegsführung, beginnend von Energieblockaden und politisch motivierten Investitionen bis hin zu Bestechung und Medienmanipulation, um seine Interessen durchzusetzen und die transatlantische Orientierung Zentral- und Osteuropas in Frage zu stellen.

The Kremlin Playbook, S. IV

Zu den Unterzeichnern gehören bekannte Politiker, unter ihnen Vaclav Havel und Lech Walesa. Als lettische Politikerinnen unterschrieben Vaira Vike-Freiberga, die während der Sowjetzeit im kanadischen Exil lebte und von 1999 bis 2007 lettische Staatspräsidentin war, und Sandra Kalniete, ehemalige lettische Außenministerin und heutige EU-Abgeordnete. Lettland ist neben Ungarn, Bulgarien1, Slowakei und Serbien eines der Länder, das von den CSIS-Autoren näher untersucht wurde. Zu dem, was die Studie zu Lettland vermerkt, später mehr.

Die infektiöse russische Korruption

Für die fünf Länder wurde jeweils ein "footprint", ein ökonomischer Fußabdruck Russlands erstellt. Dieser sei besonders bedenklich, wenn er einen Anteil von zwölf Prozent übertreffe. Der russische Einfluss, dessen Markenzeichen ein oligarchischer Kapitalismus sei, destabilisiere die jungen Demokratien Osteuropas und störe die transatlantischen Beziehungen. Der Westen habe in der Wendezeit von 1989 bis 1991 die Überlegenheit seines ökonomischen Modells demonstriert.

Russland reagiere nun nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit einem höchst korrupten Netzwerk aus Transaktionen und Beteiligungen. Der Aufstieg nationalistischer Kräfte und eine EU-skeptische Stimmung quer durch Europa habe den russischen Einfluss vergrößert. Fragile Regierungskoalitionen mit geschwächten Ökonomien seien für ihn besonders anfällig.2 So erodierten Transparenz, Gesetze und die Good-Governance-Praxis, kurzum: Der redliche westliche Kapitalismus wird von Russen, die systematisch Korruption anwenden, geschwächt und ausgenutzt. So werden liberale Demokratien mit offener Wirtschaftsform in autoritäre, russlandhörige Staaten verwandelt.

Um dies zu veranschaulichen, schrecken die Autoren nicht vor biologistischen Metaphern zurück, jenen verwandt, die im Deutschland der 30er Jahre zur Propagandasprache gehörten: Der bösartige russische Einfluss könne verglichen werden mit einem "Virus, der westliche Demokratien attackiert".3 Zunächst durchdringe er unauffällig das Land. Er erscheine harmlos und wie legale geschäftliche Transaktionen. Dann beginne der Virus, sich zielgerichtet in den lokalen Netzwerken zu verbreiten, heimlich den demokratischen Wirt vereinnahmend. Für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte bleibe der Virus aufgrund seines intransparenten Designs unentdeckt oder unbeachtet. Während die demokratischen Institutionen noch normal funktionierten, beginne der Virus allmählich zu gedeihen und verbreite sich in der Apparatur des Wirts.

Dies sei in der Zeit von 2004 bis 2008 der Fall gewesen, als russischer Einfluss allmählich verschiedene Sektoren der Wirtschaft infiziert habe, dazu zählten Energie, Finanzen, Medien und Infrastruktur. Nach einer gewissen Zeit seien die Ökonomien und Institutionen der Wirtsländer derart geschwächt gewesen, dass ihre Verfolgungsbehörden, die Korruption und Monopolbildung bekämpfen sollten, völlig außerstande gewesen seien, sich des russischen Einflusses zu erwehren. Das habe dem Kreml erlaubt, Kontrolle über die Regierung auszuüben.

Selbst wenn die Wirtsdemokratie widerstehe, könne die Regierung zu Fall gebracht werden, indem man das Ausmaß von Korruption und Amtsmissbrauch entlarve. Das bedeute für den Kreml zwar einen kurzfristigen Rückschlag, doch auch davon profitiere er, weil das Vertrauen in die politischen Mainstream-Parteien und in das demokratische System schwinde. Das steigere wiederum die Popularität extremer Parteien, die anti-europäisch und anti-amerikanisch seien. Es stecke eine unleugbare Eleganz in dieser "Win-Win-Taktik" des Kremls, eine perfekte Strategie, um die Fundamente der Demokratie von innen heraus aufzulösen, das westliche Governance-Modell zu diskreditieren, um sein eigenes Modell zu erhöhen. Diese steilen Thesen wollen die Autoren u.a. an Lettland demonstrieren.

Die "Antikörper" der Letten

Für Lettland beobachten die CSIS-Analysten eine bedenkliche Vergrößerung von Russlands ökonomischem Fußabdruck nach dem russisch-georgischen Konflikt und der Finanzkrise: auf 16 Prozent des lettischen BIP im Jahr 20144. Über 12 Prozent gilt ihnen als besonders gefährlich. Dennoch wird die lettische Gesellschaft gelobt, die gegenüber dem russischen Einfluss "Antikörper"5 entwickelt habe. Die Letten haben eine beträchtliche Skepsis gegenüber Russland, dem Nachfolgestaat der UdSSR. Die Besetzung der baltischen Länder durch die Rote Armee bedeutete jahrzehntelange Unterdrückung und Fremdherrschaft. Die USA wurden in dieser Zeit zum Sehnsuchtsort. Viele Letten, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor den Tschekisten flüchteten, fanden jenseits des Atlantiks eine neue Heimat.

Die Balten nutzten für ihre Singende Revolution die Erkenntnisse des US-Amerikaners Gene Sharp. 6Er lehrt den gewaltfreien Widerstand. Mit seiner Strategie erlangten die Balten 1991 die nationale Unabhängigkeit zurück. Heute gilt der neue große Bruder jenseits des Atlantiks als eng befreundete Schutzmacht. Das Verhältnis zu Russen, auch zur russischsprachigen Minderheit im eigenen Land, ist dagegen nach wie vor vom politischen Streit geprägt. Hinzu kommt die Furcht, dass das eigene Land von Russen aufgekauft werden könnte. Die Hälfte der Einlagen auf lettischen Banken stamme aus Russland oder anderen GUS-Staaten.7

Das Rechercheteam Re:Baltica, das u.a. von US-Fonds unterstützt wird, ermittelte, dass es sich dabei häufig um Schwarzgeld handelt. Doch wenn illegal beiseite geschafftes Geld das "Wirtsland" schädigte, müsste die Schweiz längst ein gescheiterter Staat sein. Die lettische Skepsis trifft auch die eigenen Landsleute, die sich als Unternehmer und Politiker betätigen und sich aus geschäftlichen Interessen ein gutes Verhältnis zu Russland wünschen.

Vaira Vike-Freiberga sprach im Krisenjahr 2009 von den "Oligarchen", die verhinderten, "dass bei uns die politischen Prozesse völlig transparent, durchsichtig, demokratisch, ohne Anzeichen der Korrumpierung" erfolgten. Seitdem gelten Andris Skele, Ainars Slesers und Aivars Lembergs als oligarchische Bösewichte. Sie spielen in der lettischen Folge des CSIS-Playbooks die Hauptrollen.

Die drei lettischen Geschäftsleute üben einen erheblichen Einfluss auf die Politik aus. Mit diesen Herrschaften beginnt die Fortsetzung des zweiten Teils: Feindbild Russland als Ablenkungsmanöver