Wie es zum Bürgerkrieg in der Ukraine kam

Seite 3: Verzweifeltes Abschütteln von 74 Jahren Geschichte

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In der Ukraine läuft seit dem Regierungssturz 2014 ein Prozess der "Dekommunisierung". Nachdem erst spontan kommunistische Denkmäler von Radikalen gestürzt wurden, legalisierte das Parlament diesen Prozess im Mai 2015 mit dem Gesetz "Über die Verurteilung kommunistischer und nationalsozialistischer (nazistischer) totalitärer Regimes und das Verbot der Propaganda ihrer Symbole". Das Gesetz sieht vor, dass zahlreiche Denkmäler abgebaut sowie Orte und Straßen mit den Namen von KP-Funktionären oder abstrakten Bezeichnungen wie "Sozialistische Revolution" umbenannt werden müssen. Sowjetische Symbole, wie Hammer und Sichel, dürfen nicht mehr gezeigt werden. Abgebaut werden müssen nach dem Gesetz auch Denkmäler zum Gedenken an führende Wissenschaftler und Kulturschaffende, welche "das kommunistische Regime unterstützten".

Nach der Einschätzung des ukrainischen Instituts zum nationalen Gedenken müssen 76 Städte und 795 Dörfer umbenannt werden. Zwei Gebietszentren sind ebenfalls betroffen. Die Stadt Dnjepropetrowsk mit ihren 900.000 Einwohnern wurde Mitte Mai von der Werchowna Rada in "Dnjepr" umbenannt. Die Stadt Kirowograd soll in "Ingulsk" umbenannt werden.

Elf Abgeordneten der Rada reichen die Umbenennungen noch nicht. Sie haben einen Gesetzentwurf eingebracht, den 1. Mai und den 9. Mai (Sieg über den Nazismus) wieder zum Arbeitstag zu machen. Die Abgeordneten meinen diese Feiertage seien "zu politisiert" und nützten nur der "russischen Propaganda".

In der West-Ukraine gibt es schon seit Jahren Straßen, welche die Namen der ukrainischer Nationalisten-Führer und Hitler-Kollaborateure Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch tragen. Seit Mai 2016 hat nun auch Kiew zwei solche Straßen. Der "Moskauer Prospekt" und der "Prospekt General Watutina" (General Watutin war ab 1943 Leiter der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee) tragen jetzt die Namen von Bandera und Schuchewitsch.

Der extreme Nationalismus erschöpft sich nicht in Umbenennungen. Immer wieder werden auch Regierungskritiker, Politiker und Journalisten gewalttätig angegriffen und auch ermordet. Der herausragendste Fall ist der von Oles Busina. Der Kiewer Zeitungs-und Fernsehjournalist wurde am 16. April 2015 vor seiner Wohnung mit einer TT16-Pistole erschossen. Der Namen des Journalisten war unmittelbar vor dem Mord auf der Website "Mirotworez" aufgetaucht. Auf der Website stehen zur Zeit über 5.000 Namen - auch von vielen westlichen Journalisten, die sich in dem abtrünnigen Donezk akkreditiert haben. Die Website wird von Aleksandr Geraschenko, dem Berater des ukrainischen Innenministers gefördert (Ukraine: Der Kampf gegen Journalisten geht weiter).

Busina trat für die Einheit der drei slawischen Nationen ein und machte sich über ukrainischen Nationalismus lustig. Nach seinem Mord gab es ein Bekennerschreiben der rechtsradikalen Organisation "UPA". Der von Kiewer Gerichten gegen die beiden mutmaßlichen Mörder, die beiden Ultrarechten Denis Polischuk und Andrej Medwedko, verhängte Hausarrest wurde im März und Mai 2016 aufgehoben. Am 14. Juli 2015 wurde eine Gedenktafel am Haus des ermordeten Busina von drei Journalisten entfernt.

Brutalisierung

Der Maidan war 2013 zunächst eine friedliche Bewegung mit bis zu 100.000 Demonstranten, die für einen Assoziationsvertrag mit der EU demonstrierten. Aber nationalistische Schlägertrupps versuchten schon am 1. Dezember 2013 die Situation mit einem Sturm auf die Präsidialverwaltung anzuheizen (Hass auf Moskauer, Juden und "andere Unreine").

Gewalt war in der Ukraine schon länger ein wichtiger Faktor geworden. Am 17. September 2000 war der Journalist Gregori Gongadse ermordet worden. Seinen enthaupteten Körper fand man in einem Wald 100 Kilometer von Kiew entfernt. Schlägereien im Parlament wurden - insbesondere wenn es um die Verlängerung des Vertrages über den russischen Flottenstützpunkt in Sewastopol ging - zur Normalität in der Werchowna Rada.

Die Gewalt schwappte in die Gesellschaft über. Am deutlichsten wurde das am 2. Mai 2014 in Odessa, als am Rande einer Straßenschlacht 17-jährige Anhängerinnen des Maidan ausgelassen und in aller Öffentlichkeit Molotow-Cocktails bauten.

Foto: Junge Frauen füllen am 2. Mai 2014 in Odessa Molotow-Cocktails mit brennbarer Flüssigkeit ab. Es wäre allerdings ganz falsch, die Ukrainer pauschal als ultranationalistisch oder faschistisch zu bezeichnen. Wenn die Kampfpilotin Nadeschda Sawtschenko von ukrainischen Medien gefeiert und auch von westlichen Medien gehypt wird, heißt das noch nicht, dass der Großteil der Bevölkerung hinter Sawtschenko steht. Letztlich sind es in jeder Stadt nur ein paar hundert oder ein paar tausend Ultranationalisten, welche gewalttätig - allerdings von den Behörden gedeckt - gegen Regierungskritiker vorgehen und eine Klima der Angst verbreiten.

Der Großteil der Bevölkerung ist erschöpft und müde von der Politik und mischt sich nicht mehr in öffentliche Debatten ein. Die Menschen sind vor allem mit der Sicherung ihres Überlebens beschäftigt. Meine persönlichen Hoffnungen in der Ukraine richten sich eben auf diese große Masse von Menschen, die sich nicht aktiv an nationalistischen Ereiferungen beteiligen.