Wie es zum Bürgerkrieg in der Ukraine kam

Seite 2: Das ehemalige Galizien ist wie ein Stachel im Fleisch

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Ukraine mit ihren unterschiedlichen Sprachen und nationalen Minderheiten (Russen, Ungarn, Slowenen, Moldauer, Armenier, Griechen, Juden) als Staat zu erhalten, gelang nur, solange der Westen kein Exklusivrecht auf Einfluss in der Ukraine beanspruchte. Doch die 2014 von der EU geforderte Entscheidung zwischen der EU-Assoziation oder einer Zollunion mit Russland verstärkte die politische und kulturelle Spaltung des Landes und begünstigte die Entwicklung hin zum Bürgerkrieg.

Die ukrainischen Präsidenten Krawtschuk, Kutschma und Janukowitsch, welche die Ukraine von 1991 bis 2004 und von 2010 bis 2014 leiteten, hatten erkannt, dass die Ukraine als Staat nur mit guten Beziehungen zu Russland und zur EU überleben kann. Die drei Präsidenten hofften von der EU und von Russland profitieren zu können und machten eine Schaukelpolitik, die sowohl der EU als auch Russland das Gefühl gab, in der Ukraine mitreden zu können.

Doch die nationalistischen Kräfte in der Ukraine, die von der ukrainischen Diaspora in Kanada und den USA unterstützt wurden, waren nicht an einem Status quo interessiert. Schon seit Ende der 1980er Jahre, zu Zeiten von Gorbatschows Perestroika, gründeten sich in der westukrainischen Stadt Lviv (Lemberg) verschiedene ukrainisch-patriotische Organisationen. Das Spektrum reichte von der gemäßigten Dissidenten-Vereinigung "Ruch" über die ultranationalistische Versammlung der ukrainischen Nationalisten UNA mit ihre militärische Arm UNSO bis hin zu der 1991 gegründeten Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, die nazistisches Gedankengut vertrat und sich aus taktischen Gründen 2004 in "Swoboda" ("Freiheit") umbenannte.

Einer der Gründungsmitglieder der National-sozialen Partei war Andrej Parubi. Er war im Winter 2013/14 Kommandant des Maidan in Kiew. Regierungskritiker in Odessa vermuten, dass Parubi der Drahtzieher des Massakers von Odessa am 2. Mai 2014 war. Am 14. April 2016 wurde der ultranationalistische Politiker von den Abgeordneten der Werchowna Rada zum Sprecher des ukrainischen Parlaments gewählt.

Historisch gehörte der äußerste Westen der heutigen Ukraine lange zur österreichisch-ungarischen Monarchie. 1918, nach dem Zerfall des Habsburger Reiches, fiel Galizien an Polen. Durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und das geheime Zusatzprotokoll fiel der Großteil Galiziens dann 1939 an die Sowjetunion. Wer begreifen will, warum es heute in der Ukraine ein hohes Maß von Gewalt gegen Andersdenkende gibt, warum Krieg gegen die eigenen Landsleute im Osten geführt wird und warum es gegen die anti-russische, nationalistische Aufheizung der Gesellschaft im Land so wenig öffentlichen Widerstand gibt, muss einige Schlüsselprobleme berücksichtigen, die sich bereits in den 1990er Jahren andeuteten.

Oligarchisierung

Den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft im Galopp überlebten viele Fabriken nicht. Durch die überstürzte Auflösung der Sowjetunion brachen die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Sowjetrepubliken brachen zusammen. Fabriken gingen massenweise Pleite und wurden geschlossen.

Es begann eine wilde Privatisierung. Ihre neuen Firmen registrierten die neuen ukrainischen Millionäre in westeuropäischen Offshore-Zonen. Dem Staat fehlten die Steuereinnahmen. Die politische Macht ging auf Oligarchen über, die sich Abgeordnete für mehrere Zehntausend Dollar regelrecht kauften. In den 2000er Jahren wurde es zur Praxis, dass Politiker für die Teilnahme an Demonstrationen auch Geld zahlten.

Verarmung

Gegen niedrige Löhne, mangelnden Arbeitsschutz und Verarmung gab es in den 1990er Jahren immer wieder Streiks und Demonstrationen von Bergarbeitern aus der Ostukraine. Doch an der Macht der Oligarchen konnten diese Aktionen nichts ändern. Die größten Profite machten damals die Stahlunternehmen im Donbass, welche Stahl ins Ausland exportierten.

Die öffentliche Infrastruktur in der Ukraine zerfiel allmählich. Ich erinnere mich an meine Besuche in Kiew 1997. Zu einer Freundin, die im nördlich des Kiewer Stadtzentrums gelegenen Bezirk Obolon in einem Mehrfamilienhaus mit 100 Wohnungen lebte, gelangte ich nur, wenn ich bis in den elften Stock Treppen stieg. Weil die Stromrechnung für den Lift nicht bezahlt war, hatte die Stromgesellschaft den Lift abgeschaltet. Auf den Straßen Kiews sah man damals viel Armut. Im Herbst standen damals Frauen trotz bitterer Kälte auf Freiluftmärkten und verkauften den ganzen Tag über Butter, Käse, Eingemachtes und Kleidung. Nach Angaben der russischen Migrationsbehörde gab es 2009 3,6 Millionen Ukrainer, die in Russland arbeiteten, davon der Großteil nicht legal. Wie viele Ukrainer genau in der EU arbeiten, ist nicht bekannt. Doch die Weltbank geht davon aus, dass fast 15 Prozent der Ukraine zumindest zeitweise im Ausland gearbeitet haben.

Ukrainisierung

An Stelle der vom Staat verordneten kommunistischen Ideologie trat in den 1990er Jahren ein vom Staat verordneter ukrainischer Patriotismus, zunächst in einer gemäßigten, dann in einer anti-russischen Ausprägung.

Linke Ukrainer berichten (Interview mit Sergej Kiritschuk), dass Anfang der 1990er Jahre, nach dem ersten Schock in der Bevölkerung über die zunehmende Verarmung, eine Renaissance für die Kommunistische Partei drohte, weshalb die neuen Oligarchen auf eine nationale Ideologie setzten.

Die Kader, welche die neue Ideologie in den Medien, Schulen und Universitäten verbreiteten, waren nicht nur altgediente Ultranationalisten aus der Westukraine sondern auch ehemalige Komsomol-Funktionäre und KPdSU-Mitglieder.

  • Die bekannte Politikerin der rechtsradikalen Partei Swoboda, Irina Farion, war von 1988 bis 1991 Mitglied der KPdSU und als Philologin Leiterin eines Kreises für "marxistisch-leninistische Ästhetik" an der Universität von Lviv.
  • Der heutige Vorsitzende des ukrainischen Sicherheitsrates, Aleksandr Turtschinow, der Russland im April 2015 mit einer "schmutzigen Bombe" gedroht hatte (Die Probleme der Ukraine mit der atomaren Sicherheit), war von 1987 bis 1990 Sekretär des Kommunistischen Jugendverbandes Komsomol und danach Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda des Komsomol in der Stadt Dnjepropetrowsk.

Nach ihrer Umbenennung von "Sozial-nationale Partei der Ukraine" in "Swoboda" (Freiheit), konnten die ukrainischen Rechtsradikalen 2012 ihren ersten großen Wahlerfolg in der Ukraine erringen. Bei den Parlamentswahlen erhielt Swoboda 10,44 Prozent der Stimmen. In den drei Gebieten Lviv, Ternopil und Iwano-Frankiwsk, die früher zu Galizien gehörten, "Swoboda" sogar zwischen 31 und 38 Prozent. Zu den wenigen Zeitungen, die von diesem Durchbruch der Rechten wenigsten mit einer Kurznotiz berichteten, gehörte die Frankfurter Rundschau.

Die Umschreibung der Geschichte

Die "Ukrainisierung" bekam nach der orangenen Revolution von 2004, welche Viktor Juschtschenko als Präsidenten an die Macht brachte, einen neuen Schub.

Unter Juschtschenko wurden kaderpolitische Weichen zu Gunsten einer Ukrainisierung gestellt. Um in Odessa das Übergewicht von russischer Kultur und Tradition zu brechen, wurde ein bestimmter Anteil von Studienplätzen an den Universitäten der Hafenstadt für Studenten aus der Westukraine reserviert. Hohe Posten in der Verwaltung der Stadt wurden mit Beamten aus der West-Ukraine besetzt.

Ein wichtiger Baustein der nationalistischen Politik von Juschtschenko wurde der Gedenktag an die große Hunger-Katastrophe, bei der in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933 mehrere Millionen Menschen starben. Das kleine, schlichte Golodomor-Denkmal, welches im Kiewer Stadtzentrum 1993 aufgestellt worden war, reichte Juschtschenko nicht. 2008 weihte er einen großen Golodomor-Gedenkkomplex in Kiew ein. Grafik Golodmor-Denkmal von 1993 Grafik Golodomor-Gedenkkomplex von 2008

Obwohl es Anfang der 1930er Jahre Hungersnöte in Folge der Zwangskollektivierung auch im südrussischen Kuban-Gebiet und in Nord-Kasachstan gegeben hatte, bekam unter Präsident Juschtschenko die These vom "Moskauer Genozid" gegen das ukrainische Volk offiziellen Status.

Doch gegen die "Ukrainisierung" regte sich Widerstand im Südosten der Ukraine. 2001 wurde in Donezk die Partei der Regionen gegründet. Die Hauptforderung der Partei war die Einführung von Russisch als zweiter offizieller Staatssprache.

Der Anteil der Ukrainisch- und Russisch Sprechenden in den Regionen der Ukraine (2001). Bild: Olegzima/CC BY-SA 3.0

Nachdem Janukowitsch 2010 Präsident geworden war, wurde 2012 ein Gesetz über Regionalsprachen erlassen. Das Gesetz sah vor, dass wenn eine Sprache von über zehn Prozent der Bevölkerung einer Region gesprochen wird, diese Sprache in den Rang einer zweiten offiziellen Sprache der Region gehoben wird.

Unmittelbar nach dem Staatsstreich in Kiew, am 23. Februar 2014, wurde das Regionalsprachengesetz von der Rada abgeschafft. Die Abschaffung wurde dann aber - offenbar wegen Kritik aus dem Westen -auf Eis gelegt. Es fehlt bis heute die Unterschrift des Parlamentssprechers unter das Gesetz.

Wahlbeteiligung bei der Präsidentschaftswahl Mai 2014. Bild: Nazar.galitskyj//CC BY-SA 3.0

Bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2014 zeigte sich, auf welch schwachen Füßen die neue Macht in Kiew stand. Während die Wahlbeteiligung im äußersten Westen der Ukraine bei 80 Prozent lag, beteiligten sich im gesamten Südosten der Ukraine nur zwischen 50 und 55 Prozent der Berechtigten an der Wahl.