Wie viel Zeit bleibt bis zum Erdbeben?
Neues Frühwarnsystem entwickelt
Ein Frühwarnsystem kalifornischer Wissenschaftler kommt auf 40 Sekunden Reaktionszeit. Kanadische Geologen setzen auf ETS (Episodic Tremor and Slip) und hoffen auf eine 2-Tages-Frist.
Kaum ein Tag vergeht ohne ein Erdbeben. Riesige Platten schieben die Kontinente langsam um den Globus und erzeugen Verkantungen oder Zusammenstöße, die glücklicherweise nicht immer Katastrophen verursachen. An der bevölkerungsreichen Westküste der Vereinigten Staaten befürchten viele ein neuerliches Jahrhundertereignis. Nur Bilder und mündliche Überlieferungen sind vom großen Erdbeben, am 18. April 1906, übrig geblieben.
Damals gab es Zerstörungen über 1000 Kilometer Küstenlänge. Am stärksten betroffen war San Francisco. 250.000 Menschen wurden hier obdachlos, mehr als 28.000 Häuser zerstört. Nachfolgende Brände taten ein Übriges. Etwa 3000 Todesopfer hatte allein die Stadt zu beklagen.
Die heutige Bevölkerung gibt der Bedrohung wenig Raum. Nicht so Städteplaner und Geologen. Die Schäden von "Big One", so heißt das gefürchtete Ereignis, sollen gering gehalten werden. Dazu simulieren sie Erdbeben unterschiedlicher Intensität durch den Vergleich mit vorlaufenden Beben ohne Verwüstungen. Aus den jahrelangen Beobachtungen entstand ein Frühwarnsystem, das Richard M. Allen und seine Mitarbeiter von der University of Wisconsin-Madison Anfang Mai vorstellten. In Science beschreiben sie ihr System ElarmS, ein verkoppeltes Netzwerk seismischer Stationen mit 155 Messstellen im südlichen Kalifornien.
Die Geologen machen sich den zweiphasigen Verlauf der Erdbeben zunutze. Niedrig energetische Wellen, auch langwellige P-Wellen genannt, beginnen früher und laufen mit höherer Geschwindigkeit den zerstörerischen S-Wellen voraus. "Unser System ermittelt den Ort, die Herkunft, den Zeitablauf sowie die Intensität der seismischen Wellen und berechnet daraus die zerstörerische Energie des Erdbebens. Zusätzlich wird die Zeit berechnet, bis das Beben an einem der Orte angekommen ist. Diese Werte wiederum triggern ein angeschlossenes Alarmsystem," erklärt Richard M. Allen. "Jede Sekunde zählt," erklärt er weiter. "Das kann ausreichen, um ein Haus zu evakuieren, Gas- und Benzinleitungen abzuschalten, oder einen Zug anzuhalten."
ElarmS ist der hoffnungsvolle Anfang mit weitreichenden Konsequenzen. Richard M. Allen bemisst die Vorwarnzeit auf etwa 10-20, bestenfalls 40 Sekunden. Deshalb müssen Notsignale automatisiert, und die Bevölkerung aufgeklärt und geschult werden. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit von Fehlalarmen? "Die Erkenntnis kommt mit der Erfahrung. Wir besaßen bislang kein Frühwarnsystem. Deshalb werden wir erst in 5 oder 10 Jahren wissen, welche Beben zerstörerisch gefährlich sind," erläutert Allens Kollege Hiroo Kanamori. "Schauen Sie nach Japan. Da hat sich das automatische Frühwarnsystem UrEDAS, das ebenfalls auf den P- Wellen basiert, im täglichen Zugverkehr wirklich bewährt."
Die Information der letzten Minute reicht nicht aus, um chemische Reaktionen anzuhalten, kritische Vorgänge runterzufahren oder das Ab- und Umladen von Gefahrengütern einzustellen. Deshalb wird die Idee von Gary Rogers und Herb Dragert vom Pacific Geoscience Centre im kanadischen Sidney (British Columbia) bereits in Science Express veröffentlicht. Die Geologen bringen ihre Idee ein, wie ein drohendes Erdbeben zwei und mehr Tage im Voraus ausgemacht werden kann.
Die beiden Wissenschaftler stützen sich auf die Erkenntnis, wonach transiente Oberflächenveränderungen entstehen, sobald die Plattentektonik Teile der Erdkruste verkeilt oder gegen einen festeren Block drückt. Der "Slip" kann heute mittels GPS (Global Positioning System) kontinuierlich abgetastet werden. Allerdings ließen bisherige Beobachtungen in Japan vermuten, dass die Verspannung nur unwesentliche seismographische Reaktionen hervorruft. Indes fanden die Forscher bei ihren Messungen im kanadischen Viktoria wiederholt Slips, die Erschütterungen in der Größenordnung von 1-5 Hz freisetzen und sich damit deutlich von den Wellen der Erdbeben (über 10 Hz) unterscheiden. Dennoch sind die Wellen kräftig genug, um noch 300 km von der Quelle entfernt gemessen zu werden.
In den Slips sieht Garry Rogers die Chance für die langfristige Prognose:
Wenn wir genau hinhören, erzeugt die Erdkruste hier im San Andreas Graben so etwas wie ständiges Donnergrollen. Mit der Technik der Zeitreihenanalyse können wir die mit Erschütterungen gekoppelten Slips, die wir ETS (Episodic Tremor and Slip) nennen, als Verbund darstellen. Sollte ein ETS ein größeres Erdbeben auslösen, werden wir den initialen Stoß erkennen. Unsere lückenlosen Meßreihen seit 1996 versprechen eine Auflösung von mindestens zwei Tagen. Das wäre Zeit genug, um eine Region zu evakuieren.
Seit 1857 werden am San Andreas Graben rechnerisch in 20- jährigen Intervallen Erdbeben bis zur Stärke 5 registriert. In den nächsten 30 Jahren, so erklärten die Geologen erst kürzlich (United State Geological Survey), besteht eine 62prozentige Wahrscheinlichkeit für ein Beben der Stärke 6,7. Das wäre schlimm genug, und doch wenig im Vergleich zum großen Beben von 1906. Charles Francis Richter, nach dem die Skala benannt ist, schätzte 1958 einen Wert um 8 aus den in Europa ermittelten seismographischen Aufzeichnungen.
Heute reduzieren die Geologen den Wert auf 7,8, nachdem gefunden wurde, dass die seismographischen Wellen auf ihrem Weg von Kalifornien nach Europa verstärkt werden. Keinen Zweifel gibt es hingegen an der Dauer des damaligen Bebens: nach 40-60 Sekunden lag San Francisco in Trümmern. Die Vorschläge aus den Vereinigten Staaten und Kanada sind Meilensteine, die das Leben in erdbebengefährdeten Gebieten sicherer machen. Das Netzwerk ElarmS könnte überall auf der Welt installiert werden. Die niedrig energetischen Wellen für ETS sind hingegen nur an der amerikanischen Westküste gefunden worden.