Wie wir lernen, das Kleine zu lieben

Steuern rauf, Leistungen runter - die große "Koalition der neuen Möglichkeiten" und ihre Politik

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Das Volk hat die Regierung, die es gewählt hat. Seit zwei Wochen ist Angela Merkel Kanzlerin der Bundesrepublik. Ihre Regierung hat die Arbeit aufgenommen. Was sind die Konsequenzen? Wie sieht sie aus, die "Koalition der neuen Möglichkeiten"? Was steckt hinter dem versprochenen "neuen Anfang"?

Wer jetzt motzt, das sind erstmal die üblichen Verdächtigen. Friedrich Merz natürlich, der sich nach Abschluss des Koalitionsvertrages als erster Unionspolitiker kritisch zu Wort meldete und in typischer, pseudosachlich-sorgenvoller Merz-Manier nörgelte, dies sei ein "Vertrag zu Lasten der Union", er könne "in diesem Koalitionsvertrag eine Handschrift der Union einfach nicht erkennen". Guido Westerwelle durfte natürlich auch nicht fehlen. Der FDP-Chef trompetete mit vorauseilender Enttäuschung etwas vom "größten Steuererhöhungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik", einer "sozialdemokratischen Gesamtkonzeption" und ergänzte, er wolle beim Verfassungsgericht Klage gegen den Haushalt einreichen.

Jenseits des Ressentiments aller Zukurzgekommenen des politischen Betriebs ist aber die Frage berechtigt, was sich eigentlich hinter so hübschen Verlobungsfloskeln wie der "Kunst des Möglichen", die jetzt beschworen wird, verbirgt. Und was genau steht eigentlich in dem 191 Seiten starken Koalitionsabkommen, das zusammenfasst, was die neu geformte deutsche Regierung zu tun beabsichtigt.

Geld muss in die Staatskasse

Das ist die Erklärung einer Regierung, die nicht aus einem glänzenden Wahlsieg, sondern aus einer von unserem Volk mit tiefer Sorge verfolgten Krise hervorging. Aber gerade diese Tatsache verleiht ihr ihre Kraft: zu entscheiden, was entschieden werden muss, ohne Rücksicht auf ein anderes Interesse als das des gemeinen Wohls

Kurt Georg Kiesinger im Dezember 1966 zu Beginn der ersten Regierungserklärung der Großen Koalition 1966-1969

Kiesingers Pathos findet heute kein Äquivalent. Im Zentrum allen Trachtens, Denkens und Tuns steht die Haushaltssanierung. Was das genau heißen soll, ist freilich schon die erste Frage, denn von wirklichem Schuldenabbau oder gar ausgeglichenem Haushalt kann noch für lange Zeit keine Rede sein. Aber in jedem Fall muss Geld in die Staatskasse.

Eine solche Sanierung des Haushalts ist, darüber besteht kein Zweifel, nur mit Ausgabenkürzungen zu leisten. Aber was kürzen? Darüber besteht um so mehr Streit, der zugleich einstweilen vertagt wird. Ein weiteres Mal kommt es zu einer Neuverschuldung, diesmal in Höhe von 41 Milliarden Euro. Da mindestens ein Drittel - nach Rechnung mancher sogar die Hälfte - der Staatsausgaben in den sozialstaatlichen Sektor fließen, werden vor allem Sozialleistungen weiter gekürzt werden - zum Teil mit drastischen Folgen.

Hierzu gehören die Bundeszuschüsse an die Bundesagentur für Arbeit und an die gesetzliche Krankenversicherung, die laut Vertrag in den nächsten vier Jahren "schrittweise auf Null" gebracht werden sollen. Während der Zuschuss an die Rentenversicherung einmal mehr konstant hoch bleibt, wird weiter an der Unterstützung für Arbeitslose gekürzt: drei Milliarden lautet das Sparziel beim "Arbeitslosengeld II" allein für 2006, 2007-2009 sollen zusätzliche vier Milliarden gekürzt werden. Um dieses Geld überhaupt zusammenzubekommen, wird bei jugendlichen Arbeitslosen nun auch auf das Vermögen ihrer Eltern zugegriffen.

Der Abbau anderer Ausgaben und von Subventionen wird dagegen voraussichtlich bescheiden ausfallen. Immerhin vier Milliarden Euro will man durch Einschränkung der Pendlerpauschale - für die ersten 20 Kilometer bekommt man künftig nichts mehr, ab dem 21. Kilometer werden 30 Cent pro Kilometer berechnet - und durch Streichung der Eigenheimzulage einsparen, eine weitere Milliarde pro Jahr soll durch Kürzungen in der Verwaltung gespart werden. Reduziert wird auch das Kindergeld, das in Zukunft nur noch bis zum 25. Lebensjahr gezahlt wird.

Die Löcher im Haushalt sollen vor allem durch Mehreinnahmen gestopft werden - neben indirekt höheren Steuereinnahmen durch mehr Wachstum sollen bekanntlich auch direkte Steuererhöhungen folgen: Zur Anhebung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent im Jahr 2007 tritt noch eine "Reichensteuer" für Einkommen ab 250.000 (Ledige) bzw. 500.000 Euro (Verheiratete), die Reduzierung der Sparerfreibeträge.

Im - scheinbaren? tatsächlichen? - Widerspruch zur angestrebten Sanierung stehen die zwei weiteren Ziele der Regierung: Erstens sollen Arbeitsplätze geschaffen und die Arbeitslosigkeit verringert werden, zweitens will man die Wirtschaft ankurbeln. Auch hier herrscht Uneinigkeit über die Prioritäten: Ist es so, dass Impulse zur Belebung der Wirtschaft auch zu mehr Beschäftigung führen, oder muss man Arbeitsplätze schaffen, damit über gestiegene Konsumausgaben die Wirtschaft belebt wird? Beides wäre sogar vereinbar, doch zumindest gegen die erste These spricht die Erfahrung der letzten Jahre. Die derzeitigen Rekordgewinne deutscher Unternehmen schlagen sich bislang in keiner Weise in zusätzlichen Arbeitsplätzen nieder.

"Prinzip Hoffnung" als Theorie

Was tut der Staat? 23 Milliarden Euro neue Investitionen sind als keynesianisch inspirierte "Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft" trotzdem kein "Auftakt eines Politikwechsels nach links" und wenig gemessen daran, dass allein schon die Neuverschuldung (s.o.) bei 41 Milliarden liegt - auf diese Diskrepanz zielt die angedrohte Verfassungsklage der FDP (Denn nach Artikel 115 GG darf die Neuverschuldung die Summe der Investitionen nicht übertreffen).

Indirekt sollen weitere 6,5 Milliarden Euro durch Veränderungen des Steuerrechts in den Wirtschaftskreislauf einfließen: Die Unternehmensteuerreform ist erst für 2008 geplant. Sie soll die unterschiedliche Besteuerung von Personengesellschaften und Aktiengesellschaften vereinheitlichen. Die Theorie, die dahinter steckt, ist in erster Linie das "Prinzip Hoffnung": Nur wenn 2006 endlich wieder Wachstum bringt, und der private Konsum zumindest nicht weiter einbricht, wird die Bevölkerung die Belastungen ertragen können.

Wen treffen all diese Maßnahmen? Vor allem Arbeitslose und Rentner. Beide Gruppen können sich nicht wehren, werden unausgesprochen als lästige Kostgänger betrachtet, als Bürgergruppen, die mehr kosten, als sie einbringen, sich aber nicht wehren können, die zudem, soweit möglich, in die Arbeit zurückgetrieben werden sollen. Arbeitslose müssen sich auf Nullrunden (das heißt tatsächlich: Kürzungen) einstellen. Für die Mehrwertsteuererhöhung im Jahr 2007 gibt es keinen Ausgleich. In vier Jahren werden Langzeitarbeitslose und Rentner real mehr als 10 Prozent weniger haben als heute.

Zuspitzen wird sich vor allem das Problem der Rentenkassen. Sie sind leer. Weil es immer mehr Rentner gibt und immer weniger Beitragszahler, steigen die Beiträge, während die Renten stagnieren oder sinken und das Renteneintrittsalter erhöht wird. Allerdings muss pro Kopf auch immer länger Rente gezahlt werden - Folge der höheren Lebenserwartung.

Ausgeklammert wurden im Koalitionsvertrag vor allem drei Felder: Bildung, Familie und Gesundheit. Zum Thema Bildung hat die neue Regierung schlechthin nichts zu sagen. Der Bund überlässt den Ländern weitgehend die Zuständigkeit, und verzichtet auch darauf, zumindest in den Debatten klare politische Positionen zu beziehen, um sich vielleicht auf diesem Weg Zuständigkeiten zu erkämpfen.

Im familienpolitischen Bereich will man "mehr Kinder in den Familien und mehr Familie in der Gesellschaft." Ohne Kinder habe "Deutschland keine Zukunft", heißt es im Vertrag. Jenseits der Politpoesie gibt es aber kaum Konkretes: Ein einjähriges Elterngeld wird gezahlt - maximal 1800 Euro für ein Jahr. Im Gesundheitssystem läuft alles auf die von der SPD beabsichtigte Bürgerversicherung zu. Die CDU wollte zunächst im Gegensatz zur CSU die berüchtigte "Kopfpauschale", eine einkommensunabhängige Gesundheitsprämie für alle. Nun wurde vereinbart, "im Laufe des Jahres 2006 gemeinsam eine Lösung" zu finden. Arznei-Preise sollen eingefroren werden, Krankenkassenfusionen erleichtert werden.

Natürlich besteht das Koalitionsabkommen noch aus mehr, als aus Wirtschafts- und Sozialpolitik. Föderalismus- und Wahlrechtsreformen lassen auf sich warten. Aber vor allem in der Außenpolitik findet zur Zeit eine Neuorientierung statt. Auch kulturpolitisch gibt es wichtige Veränderungen. Mehr dazu bei nächster Gelegenheit.

Klimawandel und Stilwechsel

Die beste Nachricht bei alldem ist gewiss, dass die deutsche Demokratie zumindest pragmatisch funktioniert, dass sich SPD und Union auf eine Zusammenarbeit und ein paar gemeinsame Projekte verständigt haben. Politik als Kunst des Möglichen gelingt auch in Zeiten der Krise, wie schön. Aber was war möglich zwischen den Großkoalitionären?

Die große Koalition, mit einer SPD, wie sie momentan vorhanden ist, ist der sichere Weg, dass die notwendigen Veränderungen in Deutschland nicht stattfinden. Angela Merkel im Wahlkampf 2005

Nicht soviel, wie man von einer Großen Koalition hoffen durfte. "Deutschland steht vor großen Herausforderungen", heißt es in der Präambel zum Vertrag, keine neue Nachricht, zugleich aber auch ein Rückgriff auf jene Krisenrhetorik, die spätestens seit der "Ruck-Rede" des vor-vorigen Bundespräsidenten Roman Herzog abgenutzt und stumpf ins politische Museum gehört.

Gerade einmal zweieinhalb Jahre ist es her, da stellte der damalige Kanzler Gerhard Schröder seine "Agenda 2010" vor. Von vielen angefeindet, von allen als Zumutung beklagt, von der Opposition bekrittelt und - im unionsdominierten Bundesrat - blockiert, bot die "Agenda 2010" doch zumindest ein Reformprogramm, das sämtliche Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik umfasste - und damit zumindest die Ahnung eines gesellschaftspolitischen Gesamtentwurfs. Vergleicht man den Koalitionsvertrag, erkennt man, dass er eine keineswegs konsequente, sondern eher reduzierte Fortsetzung der Schröderschen Politik bringt. Steuern rauf, Leistungen runter - das ist geblieben. Merkel, die den "Systemwechsel" in die eine - neoliberale - Richtung wollte, und damit dramatisch gescheitert ist, will oder kann keinen Systemwechsel in die andere Richtung leisten. Auch ihre Regierung vertieft die Kluft zwischen jenen, die noch Teil der - wie lange noch existierenden, vielleicht schon sicher untergehenden - Arbeitsgesellschaft sind, und denen, die aus ihr herausgefallen sind.

Viele werden sagen: Diese Koalition geht viele kleine Schritte und nicht den einen großen. Und ich erwidere: Ja, genauso machen wir es.

Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung

Zusammenfassend bedeutet der Beginn der Großen Koalition insoweit vor allem einen politischen Klimawandel und Stilwechsel. Es dominieren die Sachzwänge, die Behauptung der Alternativlosigkeit, das technokratisch Unausweichliche. Aber welches Gesellschaftsbild hat die Kanzlerin? Davon ist nichts zu erkennen. "Mut machen", "Freiheit wagen", "neue Gründerjahre". Nun ja, warum nicht? Aber ist das alles? Was die "Koalition der neuen Möglichkeiten" eigentlich bedeutet, muss Merkel auch nach ihrer Regierungserklärung noch erklären.