Wie wird sich die Pandemie weiterentwickeln?

Analysen und Gedanken zum neuartigen Coronavirus - Teil 3

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Erfahrungen mit der saisonalen und pandemischen Influenza

Bei den in den gemäßigten Breiten auftretenden Grippewellen ist eine ausgeprägte Saisonalität zu beobachten. Diese wird im Wesentlichen durch folgende Faktoren bestimmt1:

  1. Die Umweltbedingungen: Erkältungsviren und insbesondere Influenzaviren bevorzugen kalte Luft mit einer niedrigen absoluten Luftfeuchtigkeit, wie sie im Winter üblich ist.

  2. Das menschliche Verhalten: im Winter verbringen die Menschen mehr Zeit in geschlossenen Räumen und haben so engeren Kontakt zueinander.

  3. Das menschliche Immunsystem: die vermehrte Vitamin D - Synthese und möglicherweise auch die reduzierte Melatoninsynthese im Frühjahr und Sommer haben günstige Wirkung auf die Immunabwehr.

Daneben ist die Empfänglichkeit der Menschen für die Erkrankung entscheidend: je mehr Menschen sich mit einem Virus infizieren und eine Immunität aufbauen, desto weniger kann sich das Virus in der Bevölkerung weiterverbreiten bis das Reff schließlich unter 1 fällt und die Infektionszahlen gegen 0 laufen. Steigt die Empfänglichkeit wieder, kann eine erneute Ausbreitung stattfinden.2

In welchem Verhältnis diese Faktoren zueinander stehen ist nicht sicher geklärt. Treten allerdings neue Virusvarianten auf, wie dies bei der Influenza alle 8 bis 42 Jahre beobachtet wird3, treffen diese auf eine erhöhte Empfänglichkeit, so dass die drei oben genannten Faktoren in den Hintergrund treten und damit die Saisonalität weniger ausgeprägt ist.

Die meisten Influenzapandemien breiteten sich erst einige Zeit nach der winterlichen Grippewelle aus, da die Menschen unmittelbar nach dem Kontakt mit der saisonalen Influenza eine Teilimmunität gegenüber der neuen Influenzavariante erwarben.4 Mit nachlassender Immunität zeigte sich dann eine erste Infektionswelle im Frühjahr/ Sommer, die allerdings wegen der drei oben genannten Faktoren weniger stark ausfiel.5 Im Folgewinter trat dann mit der erneut nachlassenden Immunität eine zweite Welle auf, die angesichts der nun begünstigenden drei Faktoren größer als die erste ausfiel.6 Einzelne Abweichungen von diesem Verlauf sind möglicherweise auf Mutationen der jeweiligen Viren zurückzuführen.

Erfahrungen mit den endemischen Coronaviren

Die humanen Coronaviren 229E, OC43, NL63 und HKU1 zeigen in gemäßigten Klimazonen analog zur Influenza eine ausgeprägte Saisonalität mit einer Häufung von Dezember bis April7. Es wird vermutet, dass die Viren bei niedriger Luftfeuchtigkeit stabiler sind während gleichzeitig die Abwehrmechanismen der Atemwege durch die trockene Luft herabgesetzt sind.8

Von besonderem Interesse ist die Pandemie 1889-1895 (Russische Grippe), die zunächst dem Influenzavirus H2N2, später H3N8 zugeschrieben wurde.9 Der genaue Verursacher konnte jedoch bis heute nicht sicher geklärt werden. Molekulargenetische Untersuchungen des humanen Coronavirus OC43 haben gezeigt, dass dieses Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit um 1890 herum vom Rind auf den Menschen übergegangen ist.10 Da die damalige Pandemie vor allem bei der älteren Bevölkerung zu schweren Verläufen führte, neben Atemwegssymptomen auch neurologische Symptome hervorrief und damit eine gewisse Ähnlichkeit zu SARS-CoV-1 besaß, könnte die Russische Grippe tatsächlich auf das humane Coronavirus OC43 zurückgehen.11 Der Verlauf dieser Pandemie erstreckte sich über fünf Wellen in fünf Jahren. Dabei erkrankten 45-70% der Bevölkerung, das R0 wurde auf durchschnittlich 2,1 und die CFR auf 0,1-0,28% geschätzt.12 Entgegen dem neuartigen Coronavirus, bei dem nur etwa die Hälfte der Infizierten erkrankt, waren also mutmaßlich nahezu alle Infizierten betroffen, was möglicherweise damit zu erklären wäre, dass bis 1890 Coronaviren dem menschlichen Immunsystem noch fremd waren. Die Altersverteilung und die Symptomatik ähneln sich dagegen stark. So wurden auch bei COVID-19 vor allem ältere Menschen von schweren Verläufen betroffen und es werden häufig neurologische Symptome beobachtet.13

Erkenntnisse über das neuartige Coronavirus und Projektionen in die Zukunft

Die bisherigen Beobachtungen legen nahe, dass das neuartige Coronavirus ähnlich wie Influenzaviren und die endemischen Coronaviren einer starken Saisonalität unterliegt.14 Da es sich um einen neuen Erreger handelt, ist allerdings analog zu früheren Pandemien auch eine Ausbreitung im Sommer möglich. Welchen Einfluss die vorbestehende und verbreitete (Teil)immunität in Form kreuzreagierender T-Zellen15 hat, ist bisher nicht geklärt. Die schnelle Ausbreitung des Erregers im Frühjahr scheint jedoch dagegen zu sprechen, dass diese vorbestehende Immunität die Ausbreitung wesentlich abbremst. Möglicherweise kann diese (Teil)immunität aber den hohen Anteil asymptomatischer und milder Verläufe erklären.

Kissler et al16 schrieben "Modelling the SARS-CoV-2 transmission dynamic based on other human coronaviruses suggests that it can drop from winter peak to summer peak by 20% but can still generate substantial outbreaks (R0>1) if no control measures are in place." Die Beobachtungen der letzten Monate scheinen diese Annahmen zu bestätigen, wobei die derzeit zu beobachtende geringe Virusaktivität wahrscheinlich vorwiegend der Saisonalität und in geringerem Maße den Kontaktbeschränkungen zuzuschreiben ist. Wenn sich die Ausbreitungsbedingungen im Herbst/ Winter wieder verbessern, ist eine deutlich gesteigerte Infektionsdynamik zu erwarten. Es bleibt unklar inwieweit Kontaktbeschränkungen auf Ebene ganzer Länder die Virusausbreitung dann tatsächlich suffizient abbremsen oder gar eindämmen können.

Inwieweit jene Personen, die bereits in Kontakt mit dem Virus gekommen sind, eine länger anhaltende Immunität gegen eine erneute Infektion aufbauen, ist bislang nicht sicher geklärt. Bilden sich wie bei einem Großteil der Infizierten neutralisierende Antikörper im Blut, ist eine länger anhaltende Immunität anzunehmen. Auch wenn die Antikörperspiegel oftmals nach wenigen Wochen wieder abfallen, zeigten sich unabhängig vom Antikörperspiegel spezifische B-Gedächtniszellen, die bei Bedarf aktivierbar sind und somit einen länger anhaltenden Schutz bieten dürften.17 Insbesondere asymptomatisch Infizierte und mild Erkrankte bilden häufiger keine nachweisbaren Antikörper aus. Hier kommt der spezifischen T-Zell-Immunität18 und der mukosalen IgA-Produktion19 eine wichtige Rolle zu. Ob diese Schutzmechanismen auch einen zuverlässigen Schutz vor erneuter Ansteckung und Erkrankung bieten ist bisher nicht belegt. Im Tiermodell konnte zumindest für Influenza, SARS-CoV-1 und MERS eine Schutzwirkung durch CD4+ T-Zellen gezeigt werden.20 Für SARS-CoV-1 konnte gezeigt werden, dass noch 17 Jahre nach der Infektion reaktive T-Gedächtnis-Zellen vorhanden waren, die im Übrigen auch eine robuste Kreuzreaktivität gegenüber SARS-CoV-2 haben.21 Dies lässt vermuten, dass auch bei SARS-CoV-2 eine effektive und langlebige zelluläre Immunität aufgebaut wird. Erfahrungsgemäß kann es aber einige Tage dauern, bis die Viren auf diesem Wege eliminiert werden, so dass bei erneuter Infektion eine Infektiösität von begrenzter Dauer denkbar ist.

Nach der pandemischen Phase wird ein Verhalten ähnlich den endemischen Coronaviren erwartet mit Winterzyklen und ohne wesentliche Aktivität im Sommer.22

Wie sind die Ressourcen des deutschen Gesundheitssystems?

Über den schnellen Bürokratieabbau und die Schaffung neuer Behandlungskapazitäten hat das noch gut aufgestellte deutsche Gesundheitssystem seine Handlungsfähigkeit und seine Ressourcen unter Beweis gestellt. Diese Ressourcen sollten für das weitere Management der Coronapandemie genutzt werden, auch um übrige Gesellschaftsbereiche zu entlasten. Bei allen Kapazitäten muss einkalkuliert werden, dass die gegenwärtigen Reaktionen der Politik weltweit eine Wirtschaftskrise provoziert haben und ein Einbruch der Wirtschaftsleistung von rund 10% realistisch erscheint. Ob es im Anschluss zu einer raschen Erholung kommen wird, ist ungewiss. Natürlich werden in der Folge auch dem Gesundheitssystem große Ressourcen wegbrechen, was die Versorgung wiederum verschlechtern wird. Die noch gute Ausstattung an Betten und Intensivkapazitäten sollte gerade in Anbetracht der Erfahrungen aus einigen europäischen Nachbarländern als wertvolle Ressource angesehen werden.

Nimmt man ein R0 von 2,5 an und setzt voraus, dass nur eine Herdenimmunität die Ausbreitung der Erkrankung stoppen könnte, so wäre nach der Formel23: Herdenimmunität = 1 - 1/R0 eine Durchseuchung von 60% der Bevölkerung erforderlich. Allerdings gibt es starke Hinweise darauf, dass diese ursprünglich auf Impfungen angewendete Formel nicht auf die natürlich erworbene Immunität übertragbar ist. Jede Gesellschaft ist heterogen in dem Sinne, dass manche Individuen durch ihr soziales Verhalten sehr empfänglich für Infektionen sind und diese auch häufiger weiterverbreiten, andere hingegen nicht. Je größer diese Diskrepanz ist, desto geringer ist die zur Herdenimmunität notwendige Durchseuchung. Wie Modellrechnungen zeigen, ist im Falle von SARS-CoV-2 ein Wert von 43% statt 60% realistisch.24 Demnach müssten sich 35,7 Millionen Menschen in Deutschland infizieren damit Herdenimmunität erreicht wird. Bei einer IFR von 0,28%* und einer Intensivpflichtigenrate von 0,46% würden ca. 100.000 Menschen versterben und 164.000 intensivpflichtig werden. Liegt jeder dieser Patienten im Durchschnitt 14 Tage (die international publizierten Zahlen variieren stark zwischen 4 und 14 Tagen, in der Regel dürfte die Zahl aber unterschätzt werden, da nach Abschluss der Studien nicht alle Patienten einen Endpunkt erreicht haben) auf der Intensivstation, wären ca. 2.300.000 "Bettentage" erforderlich. Teilt man diese Zahl durch die circa 17.500 potentiell freien Intensivbetten, resultiert die Zeitspanne, über die sich die Pandemie in Deutschland gleichmäßig erstrecken müsste, um keine Überlastungen der Intensivstationen zu verursachen. Sie beträgt im Beispiel 131 Tage.

Eine Ansteckung von 43% der Bevölkerung innerhalb dieser Zeit erscheint allerdings wenig realistisch. Selbst in Wuhan, wo das Virus relativ lange unerkannt zirkulieren konnte, wurde eine Seroprävalenz von lediglich 10% festgestellt.25 Lokale Hotspots wie New York City oder die Lombardei mit höheren Durchseuchungsraten scheinen eher die Ausnahme zu sein und sind als Modell für ein ganzes Land ungeeignet. Zudem dürfte das Verhalten der Bevölkerung unabhängig von etwaigen Regierungsverordnungen längerfristig verändert bleiben, so dass eine derart schnelle Virusausbreitung wie im Frühjahr weniger wahrscheinlich geworden ist.

Die Zahl von 100.000 Todesfällen mag dramatisch klingen, muss aber auch in Relation gesehen werden zu den alljährlich rund 950.000 Todesfällen26 - darunter allein 120.000 durch Rauchen27 und 80.000 durch Luftverschmutzung28.

*Diesem Wert liegt die Annahme zugrunde, dass die 20% der Infizierten, bei denen zu keinem Zeitpunkt humorale Antikörper nachweisbar sind29, dennoch gegen eine Infektion geschützt sind und nicht erneut als Virusüberträger in Betracht kommen. Sollten diese Personen sich dennoch erneut infizieren können, könnte die zur Herdenimmunität erforderliche Durchseuchung auf 44,6 Millionen Menschen ((1/0,8 x 35,7), entsprechend 54% der Bevölkerung) wachsen. In diesem Szenario wären 125.000 Todesfälle und 205.000 Intensivpflichtige möglich, was zu 2.870.000 "Bettentagen" führen würde. Dann müsste sich die Pandemie über 164 Tage gleichmäßig verteilen, um keine Überlastungen hervorzurufen.

Welche gesundheitlichen Folgen haben die Eindämmungsmaßnahmen?

Einige Folgen der Eindämmungsmaßnahmen sind bisher zu stark vernachlässigt worden und sollten bei der Planung weiterer Maßnahmen Berücksichtigung finden.

  1. Es ist bekannt, dass die außerhalb der Grippesaison nachlassende Immunität gegenüber viralen Atemwegserregern uns in der nachfolgenden Saison empfänglicher für eine erneute Infektion macht. Es erscheint daher plausibel, dass die erste Grippewelle nach einer längeren Zeit der sozialen Distanzierung mit Kontaktreduktion und Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes - vorausgesetzt er würde korrekt angewendet - auf eine besonders empfängliche Bevölkerung treffen wird.
  2. Eine Metaanalyse kommt zu dem Ergebnis, dass soziale Isolation das Mortalitätsrisiko um 29% erhöht30, während gute soziale Kontakte das Überleben um 50% erhöhen.31 In einer Studie mit Probanden, denen Rhinoviren in die Nase eingebracht wurden, zeigte sich bei den Teilnehmern mit intensiven sozialen Kontakten ein deutlich vermindertes Risiko einen oberen Atemwegsinfekt zu entwickeln.32
  3. Weitere entscheidende Faktoren für die Stärkung unseres Immunsystems sind körperliche Aktivität und UV-Licht. Da nahezu alle COVID-19-Ausbrüche durch Übertragung in Innenräumen verursacht wurden33, wirken Ausgangsperren daher kontraproduktiv. Gerade die ältere, gebrechliche Bevölkerung dürfte durch reduzierte Bewegung Schaden nehmen. Die Faustformel der Geriater, dass ein Tag Inaktivität sieben Tage Rehabilitation erfordert, um das alte Mobilitätsniveau zu erreichen, mag dies veranschaulichen.
  4. Psychologischer Stress - vielfach Folge der verzerrten Berichterstattung über die Coronakrise - hingegen schwächt das Immunsystem.34

Zusammenfassend dürfte sich eine längere Zeit der undifferenzierten Kontaktreduktion daher negativ auf die allgemeine Gesundheit, die Widerstandskraft gegenüber Infektionskrankheiten und das Gesamtüberleben auswirken.

Gibt es Hoffnung auf ein Medikament oder einen Impfstoff?

Für die Influenza, die die moderne Medizin bereits seit Jahrzehnten beschäftigt und jährlich weltweit Hunderttausende Todesfälle fordert, wurde bislang kein Medikament mit klinisch relevanter Wirksamkeit gefunden. Die Neuramidasehemmer können zwar die Krankheitsdauer um etwa einen Tag verkürzen, für die Reduktion relevanter Komplikationen gibt es jedoch keinen überzeugenden Nachweis.35 Auch für andere virale Atemwegserreger stehen bislang keine Medikamente zur Verfügung, die deren Verlauf entscheidend bessern würden. Insgesamt muss daher trotz aller Forschungsbemühungen bezweifelt werden, dass in naher Zukunft ein Durchbruch beim neuartigen Coronavirus erreicht wird. Umso mehr muss vor verzweifelten Experimenten mit nebenwirkungsträchtigen Medikamenten gewarnt werden.

Das initial vielfach eingesetzte (Hydroxy)chloroquin kann als Beispiel hierfür dienen. Während es sich in Bezug auf das Coronavirus als weitgehend unwirksam erwiesen hat, wurde durch die bekannten Nebenwirkungen vielleicht sogar mehr Schaden als Nutzen verursacht.36

Für Remdesivir konnte eine Wirkung für mittelschwer Erkrankte (sauerstoffpflichtig, aber nicht beatmungspflichtig) gefunden werden, während die Sterblichkeit hierdurch nicht signifikant gesenkt werden konnte.37 Nichtsdestotrotz wird es einen Stellenwert in der Therapie erhalten.

Einzig Dexamethason, ein Medikament was auch bei Influenzapneumonien im Einzelfall erfolgreich angewendet wird, scheint vielversprechend zu sein und insbesondere schwere Verläufe abzumildern. Bei Beatmeten konnte so laut einer vorläufigen Veröffentlichung jeder dritte, bei Sauerstoffpflichtigen jeder fünfte Todesfall verhindert werden.38 Inwiefern die Therapie die weitere Rekonvaleszenz beeinflusst, ist aber noch nicht bekannt. Zudem befanden sich zum Studienende noch zahlreiche Patienten in stationärer Behandlung, so dass eine abschließende Beurteilung aussteht.

Bei den geschürten Hoffnungen auf einen Impfstoff muss das Wesen der Coronaviren bedacht werden. Sie mutieren ähnlich wie andere virale Atemwegserreger sehr schnell39, so dass ein Impfstoff bei Marktreife möglicherweise schon wieder wirkungslos wäre. Ein nahezu vollständiger Impfschutz, wie dies in der laufenden Diskussion teilweise suggeriert wird, ist keinesfalls zu erwarten. Gerade ältere Menschen haben aufgrund des gealterten Immunsystems (Immunseneszenz) nochmals geringere Ansprechraten und einen schnelleren Verlust des aufgebauten Schutzes.

Auch wenn es sich bei den Influenzaviren um eine andere Gruppe von Viren handelt, kann sie als Beispiel für die Impfeffektivität dienen, die bei einem mutationsfreudigen Atemwegserreger zu erwarten ist. In den USA erreichte die Impfung zwischen 2004/05 und 2017/18 eine Effektivität zwischen 10 und 60%40. In der Saison 2017/18 lag die Impfeffektivität in Deutschland bei nur 15%, da der Impfstoff gegen den vorherrschenden zirkulierenden Influenza-Subtyp nicht schützte.41

Viele der derzeit angewendeten Impfstoffverfahren sind bisher klinisch nicht am Menschen evaluiert worden, was insbesondere auch für die mRNA-Impfstoffe gilt. Die Entwicklung eines zuverlässigen Impfstoffs nimmt mehrere Jahre in Anspruch bis Langzeitdaten zur Verträglichkeit vorliegen.42 Zwischen 1998 und 2009 etwa dauerte es durchschnittlich 10,71 Jahre von der präklinischen Phase bis zur Markteinführung eines neuen Impfstoffs, wobei nur 6% der Impfstoffkandidaten dieses Ziel auch erreichten.43

Zusammenfassend erscheinen die derzeitigen Hoffnungen auf ein Medikament oder einen Impfstoff daher in Teilen irrational. Vor dem unkritischen Einsatz unzureichend geprüfter Medikamente und Impfstoffe muss daher gewarnt werden.

Gedanken zu Teststrategien

Wie schon andernorts vielfach hervorgehoben, müssen die positiven PCR-Testergebnisse stets ins Verhältnis zur Anzahl der gemachten Tests gestellt werden. Ansonsten wird bei Ausweitung der Testzahlen trotz eines stabilen Infektionsgeschehens eine nicht vorhandene Dynamik vorgetäuscht. Die Tatsache, dass dieser Umstand sogar seitens der WHO in Bezug auf Schweden übersehen wurde, macht es notwendig immer wieder darauf hinzuweisen.44

Wie weiter oben ausgeführt, sollten die tagesaktuellen Meldedaten stets mit Vorsicht interpretiert werden. Durch unklare Latenzen zwischen Erkrankungsbeginn/ Todesdatum und Meldedatum, Nachmeldungen und oftmals unbekannte Testzahlen kann es hier zu erheblichen Fehldeutungen kommen.

Nachdem Studienergebnisse für die hohe Spezifität des PCR-Tests der Charité Berlin sprachen45, zeigte ein Laborringversuch mit kommerziellen Tests Defizite auf.46 So lag die Rate falsch-positiver Ergebnisse im Falle einer negativen Probe im Mittel bei 1,4% (je nach untersuchter Gen-Zielsequenz 0 - 2,2%). Enthielt die Probe das "alte" Coronavirus HCoV 229E lag die Rate sogar bei 7,6% (0 - 14,6%). Abzüglich der aufgetretenen Probenverwechslungen verblieb hier immerhin noch eine Rate von 1,9% (0 - 4,1%). Eine weitere unabhängige Untersuchung fand im Falle einer negativen Probe je nach Test zwischen 0 und 5% falsch-positive.47 Die teilweise mangelhafte Spezifität unterstreicht die Notwendigkeit von sogenannten Dual-Target Tests, die auf zwei Zielgene hin testen und damit das Risiko falsch-positiver minimieren. Die zuletzt niedrige Positivenrate von 0,6% in den KW 27-29 in Deutschland48 deutet darauf hin, dass hier überwiegend Tests mit hoher Spezifität und/ oder Dual-Target Tests zum Einsatz kommen. Aufgrund der weitreichenden Konsequenzen eines positiven Testergebnisses sollte die Güte der verwendeten Tests von den Laboren und Gesundheitsämtern stets berücksichtigt und kommuniziert werden.

Im Falle von flächendeckenden Tests bei nur geringem Infektionsgeschehen wird die Rate falsch-positiver besonders relevant. Selbst wenn es keinen einzigen positiven Fall geben sollte, würden so Tausende Infektionen vorgetäuscht. Aufgrund dieses Risikos der Fehlinterpretation rät der Deutsche Verband der Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM) von Massentests ab.49

Bei den berichteten Coronaausbrüchen in Schlachthöfen ist durchaus Skepsis angebracht. Da Rinder regelmäßig von tierischen Coronaviren befallen werden und Impfungen gegen diese üblich sind50, scheint es nicht ausgeschlossen, dass in der Fleischverarbeitung Virusfragmente frei werden, die letztlich auch in den Rachenabstrichen der untersuchten Beschäftigten zu finden sind.51 Die Meldung, dass von den 1331 infizierten Schlachthofmitarbeiter 21 stationär (1,6%) und 6 intensivmedizinisch (0,5%) betreut werden, spricht hingegen dafür, dass es sich tatsächlich um eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus handelte.52 Es wäre wünschenswert, wenn dieser Frage nachgegangen würde.

Welche Schlüsse sind aus den Erkenntnissen zu ziehen?

Die Daten zur geringeren statt bisher angenommenen Gefährlichkeit des Virus und das Wissen um die Kapazitäten des deutschen Gesundheitssystems sollten genutzt werden, um neue Szenarien zu erstellen, die die tatsächlichen Risiken realistischer darstellen. Daneben ist der tatsächliche Einfluss der Eindämmungsmaßnahmen auf das Infektionsgeschehen gründlich zu prüfen und dem durch sie verursachten gesellschaftlichen Schaden gegenüberzustellen. In der Summe kann der Bevölkerung so eine wissens- und nicht angstbasierte Meinungsbildung ermöglicht werden.

Da eine Eradikation des Virus ausgeschlossen erscheint, bleiben die Strategien Infektionskontrolle ("Infection control") und Abflachung der Infektionskurve ("Flatten the curve") als mögliche Alternativen.

In Deutschland - wie in den meisten anderen europäischen Ländern - wird aktuell die Strategie "Infection control" verfolgt mit dem Ziel die Reproduktionszahl <1 zu halten. Der Hintergrund der dieser Strategie scheint zu sein, das Infektionsgeschehen solange einzudämmen bis ein effektiver und sicherer Impfstoff zur Verfügung steht. Da dies aber mehrere Jahre dauern kann und die Verhängung von Kontaktbeschränkungen wie in diesem Frühjahr im on-off-Prinzip über einen solchen Zeitraum immensen Schaden anrichten dürfte, muss die Sinnhaftigkeit dieser Strategie generell angezweifelt werden.

Die im Rahmen dieser Strategie verhängten Eindämmungsmaßnahmen waren lange Zeit wenig zielgenau und schränkten die Bürgerrechte zum Teil erheblich ein. Das Beispiel von Pflegeheimbewohnern, die am Ende ihres Lebens keinen Besuch ihrer Angehörigen empfangen durften, veranschaulicht dies. Um den epidemiologischen Nutzen der Eindämmungsmaßnahmen mit anderen, ebenso wichtigen Aspekten in Beziehung zu setzen, wurde ein sogenannter "Balanced Infection Control Score" vorgeschlagen.53 Dieser berücksichtigt zur Einschätzung der Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen neben einer infektionsepidemiologischen Dimension - die auch medizinische (Verdrängungs-)Effekte für die Betreuung anderer Erkrankungen umfasst - auch ökonomische, grundrechtsbezogene und die Ausbildung betreffende Dimensionen164. Das Ergebnis einer solchen Analyse könnte z.B. sein, dass die uneingeschränkte Wiedereröffnung von Kindergärten und Schulen trotz des moderat erhöhten Risikos von Virusausbrüchen angemessen wäre, da die Schäden einer ausgesetzten Ausbildung und die Belastungen für die Familien in keinem Verhältnis dazu stehen. Ebenso könnte man annehmen, dass die Verletzung der Menschenwürde durch unfreiwillige Isolation eines nicht infizierten Pflegeheimbewohners in keinem Verhältnis zur damit potentiell erreichten Viruseindämmung steht.

Da die Kollateralschäden der derzeit verfolgten Strategie immens sind und vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit früheren Pandemien ein verstärktes Infektionsgeschehen im Winter zu erwarten ist, dürfte "Infection control" nicht auf Dauer erfolgreich bleiben.

Die alternative und initial auch von Deutschland verfolgte Strategie stellt "Flatten the curve" dar. Sie verfolgt das Ziel, über dosierte Eindämmungsmaßnahmen eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, gleichzeitig aber ein gewisses Infektionsgeschehen zuzulassen. Die Erfahrungen während der Spanischen Grippe 1918/19 zeigten, dass Eindämmungsmaßnahmen die Mortalität in der Spitze um 50% und insgesamt um 20% senken konnten. Diese Erfahrungen sind nur bedingt auf die heutige Situation mit weltweiter Vernetzung, moderner Gesundheitsversorgung und sich stark unterscheidendem Virus übertragbar. Sie können aber andeuten, dass die Spitzenbelastung des Gesundheitssystems deutlich reduziert werden kann, während die Gesamtmortalität auf lange Sicht nur moderat gesenkt werden kann.

Als Beispiel für "Flatten the curve" wird vielfach Schweden genannt. Schweden weist allerdings bedeutende Unterschiede zu Deutschland auf: Das Land ist abgesehen von der Hauptstadtregion sehr dünn besiedelt, was die schnelle Virusausbreitung behindern dürfte. Andererseits hat Deutschland etwa fünfmal so viele Intensivbetten und könnte eine größere Anzahl kritisch Kranker daher besser verkraften. Neben der relativ hohen Anzahl an Coronatoten in Schweden darf nicht übersehen werden, dass die Gesamtmortalität von 416/ 100.000 Einwohner zwischen Januar und Mai54 kaum höher war als in den letzten Jahren und das Niveau der 90er Jahre noch nicht erreicht hat (zwischen 1990 und 2019 zwischen rund 480 und 380).55 Zudem liegt die Zahl auf einem ähnlichen Niveau wie in den skandinavischen Nachbarländern (Finnland 42356, Dänemark 40257, Norwegen mit seiner jüngeren Bevölkerung 32558). Es wäre daher unangemessen die schwedische Strategie pauschal als gescheitert darzustellen, zumal das Ziel eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern bislang erfolgreich war. Tatsächlich wurde trotz der nur moderaten Eindämmungsmaßnahmen analog zu anderen europäischen Ländern - vermutlich unterstützt durch klimatische Bedingungen - ebenso ein Rückgang des Infektionsgeschehens erreicht.59

Während in den Industrieländern die Abwägung zwischen den Gefahren durch das Virus und jenen durch die Eindämmungsmaßnahmen kontrovers bleiben wird, zeigen sich in den weniger entwickelten Ländern bereits jetzt die verheerenden Auswirkungen der Überreaktion auf die Pandemie. Kontaktbeschränkungen bis hin zur Ausgangssperre im Kontext fehlender sozialer Sicherungssysteme, beengter Wohnsituation und Beschäftigung im informellen Sektor haben tödliche Folgen für die Betroffenen. Bis Ende dieses Jahres wird die Zahl der weltweit Hungernden nach Schätzungen um 82% auf 270 Millionen steigen, täglich werden bis zu 12.000 zusätzliche Todesfälle allein durch Hunger erwartet.60 Darüber hinaus werden über Jahre erreichte Entwicklungsfortschritte innerhalb weniger Monate verloren gehen. Diese Folgen dürften in keinem Verhältnis zu einer Viruserkrankung mit einer Letalitätsrate im Spektrum von 0,1 bis 1,0% stehen. Zudem zeigt die Seroprävalenz von 57% in den Slums von Mumbai61, dass die Ausgangssperre hier wirkungslos gewesen sein muss.

Abkürzungsverzeichnis

CDC Centers for Disease Control and Prevention (US-amerikanische Gesundheitsbehörde)
CFR Case Fatality Rate
ECDC European Centre for Disease Prevention and Control (Europäische Gesundheitsbehörde)
EuroMOMO European Mortality Monitoring
FluMOMO Flu Mortality Monitoring
IFR Infection Fatality Rate
KW Kalenderwoche
NL Niederlande
ONS Office for National Statistics (Büro der Statistikbehörde in UK)
PCR Polymerasekettenreaktion
R0 Basisreproduktionszahl
Reff Effektive Reproduktionszahl
RIVM Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu (niederländische Gesundheitsbehörde)
RKI Robert Koch – Institut
S Schweden
SCB Statistika centralbyrån (schwedische Statistikbehörde)
UK United Kingdom