Wieviel Honorar soll man Straßenmusikern geben?
Wirtschaftspolitik auf der Straße
Die Standardantwort lautet: "Wenn mir die Musik einigermaßen gefällt, gebe ich einen Euro." Straßenmusiker stehen unter starkem Leistungsdruck. Auf Plätzen und in Fußgängerzonen sind sie oft unerwünscht. Manche Städte, etwa Deutschlands heimliche Hauptstadt der Herzlosigkeit, verlangen gar Lizenzen für Straßenmusik. Warum könnte uns die Frage nach der Honorarhöhe von fahrenden Musikanten interessieren? Ganz einfach: An den Honoraren können wir erproben, ob wir selbst intelligente Wirtschaftspolitiker sind. Sind wir es nämlich nicht, sollten wir künftig zu Fragen der Wirtschaftspolitik, also von Löhnen, Preisen, Zinsen und Schulden unsere vorlaute Klappe halten.
Angebot und Nachfrage
Es gibt keine Nachfrage nach Straßenmusik - an dieser Tatsache führt kein Weg vorbei. Gerade an jenen öffentlichen Orten nämlich, an denen man ein seltenes Gefühl der Kontemplation und des Eins-Seins-mit-der-Welt empfindet, wünscht man sich zugleich Freiheit von tonaler Berieselung. Aber auch das Turteln am Zweiertisch auf der Terrasse erweckt nicht unbedingt das Bedürfnis, dazu eine sechsköpfige Zigeunerkapelle mit Stehgeiger zu engagieren, die Traurigkeit eines verunglückten Bob Dylan Imitators oder eines einsamen Saxophonisten zu teilen. Bereits die Währung Aufmerksamkeit ist in vielen Fällen zu viel verlangt, oder, einfacher formuliert: Wir wünschen uns sehnsüchtig, die Musiker werden an anderen Orten zu anderen Zeiten ihre Darbietungen machen. Nur bitte nicht gerade jetzt. Bitte.
Kundengewinnung durch Freeware
Straßenmusik ist also - wie Google, Facebook und Microsoft - eine angebotsorientierte Form der Dienstleistung. Und genau wie bei Google erfolgt die Kundengewinnung über zunächst kostenlose Teaser, Downloads und Reinhörer. Allerdings gibt es bisher keine Street Music Ad, die dann eingeblendet wird, d.h., die Straßenmusik muss sich - dies teilt sie mit iTunes - vom ersten Moment an als paid service beweisen. Als Preis hat sich der besagte Euro eingespielt, was unter Umständen dann aufgeht, wenn 15 zahlende Hörer je Stunde auf den "order now"-Button klicken.
Die Schätzung auf der Piazza ergibt allerdings, dass für jeden zahlenden Gast zehn nicht zahlende Gäste die Musik hören. So ging es übrigens auch Kim Schmitz.
Die Crowdfunding-Vermutung
Der übliche Euro hat sicher eine Geschichte, aber eines ist sicher: Er richtet sich nach keiner rationalen Erwägung. Wie die Apple-Aktie bewegt er sich in einem virtuellen Raum. Nach der Kaufkraft des Gebenden kann er sich ja wohl kaum richten, denn es ist bereits statistisch durch die Normverteilung und Standardabweichung völlig unmöglich, dass alle Passanten stets die gleiche Menge Bargeld mit sich führen und aus dieser ausgerechnet die Summe von einem Euro auswählen.
Das Ein-Euro-Honorar richtet sich aber auch nicht nach marktüblichen Preisen, denn für ein Konzert oder eine Musikstunde muss ich deutlich mehr bezahlen. Als Drittes drückt der Euro eine Crowdfounding-Vermutung aus, ich zahle also extra deshalb weniger, weil ich vermute, die Crowd werde insgesamt genug zu bezahlen. Diese Vermutung gilt übrigens auch bei Steuerhinterziehung. Dürfen wir annehmen, dass die Crowdfunding-Vermutung allein deshalb bereits in der Mehrzahl der Fälle nicht aufgeht, weil mein Nachbar eben die selbe Vermutung anstellt? Und so bezahlen wir gemeinsam nicht oder zu wenig.
Schwierigkeit mit dem kategorischen Imperativ
Die Feststellung, das Honorar für Straßenmusiker (so sie einem gefallen) sei eine Angelegenheit von Lust und Laune, ist bequem. Ich liege dann natürlich immer richtig. Aber was sage ich mit meinem Honorar? Welche Wirtschaftspolitik lebe ich damit, wenn ich mich doch bei meinen eigenen Kunden und Arbeitgebern mit allen Mittel dagegen verfahre, die Höhe meines Honorars oder Gehaltes könne in irgendeiner Form von den stündlich wechselnden Launen des Bezahlenden abhängig sein?
Diese absolute Verneinung von Kants kategorischen Imperativ bringt mich gegenüber Straßenmusikern in ein Begründungsproblem: Was Du nicht willst, das man Dir tu', das füg' auch keinem andern zu.
Wie viel denn nun?
Der Abschied von der bequemen Ein-Euro Praxis fällt schwer. Bei iTunes kostet ja auch jedes Stück gleich viel - auch die Stücke des Autors. Warum soll aber das Honorar auch dann immer gleich sein, wenn ich als Konzertgast damit auch meine Wertschätzung für die Leistung des Musikers ausdrücken kann? Soll sich gute Leistung etwa nicht lohnen? Ist das Honorar für einen Straßenmusiker etwa nur ein Almosen, das völlig unabhängig davon ist, was und wie gut er spielt oder singt? Meine Antwort auf diese Fragen, die ich im Grunde seit Jahrzehnten als Mitglied der irrational-verdummten-Freeware-Crowd hätte stellen müssen, lautet nun: 20 Euro (Schweiz: 20 Franken).
Willkommen in der kapitalistischen Geschenkanarchie
Man muss kein Behavioural-Economist sein, um nachzuvollziehen, dass einmal 20 Euro eine andere Wirkung haben, als achtmal ein Euro. Zunächst sind es 12 Euro mehr. Die Synergieeffekte aber stellen wirtschaftspolitische Weichen:
- 20 Euro beweisen, dass Straßenmusik eine geldwerte und konkurrenzfähige Leistung ist, das Angebot also eine Nachfrage erzeugt. Dies kann Vorbild für andere Freeware-Dienste im öffentlichen Raum sein.
- Das irrationale Ein-Euro-Dogma wird demonstrativ angegriffen. Die anderen Hörer werden gezwungen, aufgrund des Betrages ihre Crowdfunding-Hypothese in Zweifel zu ziehen. Der Virus kapitalistischer Geschenkanarchie ist im PC des lethargischen Passanten angekommen und kann seine das Betriebssystem Geiz zerstörende Kraft entfalten
- Die Straßenmusiker können aufgrund der Erwartung einer 20 Euro-Zahlung anders planen: Sie müssen weniger Ortswechsel organisieren, deshalb schwerere Instrumente verwenden, damit längere, ruhigere und meditativere Stücke spielen, die wiederum uns Hörern besser gefallen. Der Sammelaufwand sinkt drastisch.
Wir mögen uns über Schäuble, Rösler, Draghi und Steinbrück ärgern - in unserer eigenen Wirtschaftspolitik haben wir die Macht des Steuern und Lenkens. Nutzen wir sie also!