Wieviel Krieg gibt es ohne Medien?

Der tägliche "Brennpunkt" als Projektionsmaschine

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Scheinbar befinden sich Europa und die NATO im Konflikt mit Jugoslawien. In Wirklichkeit führen 1000 Flieger und 10000 Journalisten diesen Krieg. Wir schauen nur zu.

Christoph M. erzählt von seinem Irakkrieg wie von einer Anekdote inklusive Betriebsunfall. Er sei damals kaum 20jährig als Straßenbauer in der Nähe von Basra eingesetzt gewesen Als Hussein noch ein "netter" Diktator war. Damals, als der den humanitären Krieg gegen den "bösen" Iran führte. Man habe Straßen gebaut und erst später erfahren, daß kaum 20 Kilometer entfernt Kinder als lebendige Minensonden in Stücke zerrissen wurden. Das habe er erst viel später in den europäischen Medien erfahren. Und eines Tages seien Flugzeuge über die Kolonne hinweggedonnert und wieder verschwunden. In der Ferne habe es geknallt. Das seien die israelischen Flugzeuge gewesen, die im Süden des Iraks einen Atommeiler in Schutt und Asche gelegt hätten. Aber auch das sei nicht zu auffällig gewesen. Erst als am nächsten Tag Flak neben der Baustelle aufgebaut worden sei, habe er seine Zweifel bekommen. Ein Lastwagen mit brennenden Reifen und voller Munition sei detoniert. Da habe er etwas begriffen und sei auáer Landes gegangen.

Krieg als Medienkonstrukt

Die Essenz dieser Geschichte ist einfach. Krieg ist nicht als indivduelle Beobachtung erfahrbar. Der eigene Sinnesradius verhindert den Überblick und die Deutung eines Systems, das aus weit mehr Komponenten besteht. Diese Funktion erfüllen vor allem in modernen Medienkriegen Korrespondenten in Brüssel, Washington, Moskau und Albanien. Diese Kommentatoren sind ebenfalls auf die Verlängerung ihres Wissens durch Pressekonferenzen und komprimierte Augenzeugenberichte angewiesen. Und sie bürgen für die "Wahrheit" dieser Informationen. Nur dann kann zum Beispiel ein glattgekämmter Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks jeden Abend einem Rosenkranz gleich monoton Konferenzschaltungen herunterbeten. Dabei unterschlägt er immanent, daß es sich bei diesem Krieg nur auf der Opferseite um ein Massenphänomen handelt. Ansonsten diktieren Einzeltäter das Geschehen.

Krieg als Dienstleistung

1000 Flieger der Nato führen einen Luftschlag nach dem anderen. Europa selbst greift nicht zu den Waffen. Um Deutschland in den ersten Krieg seit 1945 zu verwickeln, genügen weniger deutsche Kampfflieger, als es zu einem Fuáballturnier Feldspieler bräuchte. Dieser Stellvertreterkrieg macht es auf der einen Seite der Bevölkerung abseits jeglicher Mobilisierung bequem, ein Gemetzel bei Nüsschen und Bier zu verfolgen, statt es mit zu erleiden. Auf der anderen Seite erzeugt diese Dienstleistung im Namen der Humanität eine zur Passivität verdammte Bevölkerung, deren Augen nichts von alledem wirklich sehen. Es sei denn, die Medien werden dazu herangezogen. Dramatisch wird es dann, wenn die Medien aber versagen und nicht wirklich Bilder von dem zeigen können (oder wollen), was vor Ort zu passieren scheint.

Niemand will eigentlich sehen, wie Kosovo-Albaner vertrieben, geschlagen, vergewaltigt, getötet werden. Aber die Absenz dieser Bilder macht einen Medienkrieg zunehmend absurder. Ausgerechnet die Rechtfertigung dieses humanitären Kartenhauses kann nur durch die Glaubwürdigkeit der deutschen Regierung dem Volk vermittelt werden. Scharping läuft hart an der Grenze zum Märchenonkel entlang und darf trotzdem nicht zeigen, was wahrscheinlich längst tausendfach dokumentiert ist. Die Medien würden sonst den Krieg eskalieren. Bilder von Massengräbern im Fernsehen würden die Bereitschaft zum Bodenkrieg erhöhen...es wäre ja immer noch der eigene Gefechtsstand auf der Fernsehcouch.

Krieg als Redundanz

Diese Kanäle eines Medienkriegs haben einen weiteren merkwürdigen Effekt. Sie stumpfen noch schneller ab, als es die menschliche Wahrnehmung könnte. Unbarmherzig sind nicht nur die Greueltaten und Vergeltungsschläge. Gnadenlos ist auch ein Agendasetting der Schlagzeilen, das aus 50 Tagen an Luftschlägen heute keinen Blitzkrieg mehr macht, sondern eine quälend redundante Rezitation von NATO-Propaganda auf der einen und dem Gegenspiel der serbischen Regierung auf der anderen Seite. Die "bisher schwersten Luftangriffe" sind zum medialen Mantra geworden. Was sie bedeuten und durch die Detonationen in Fabriken, Kasernen und Staatsgebäuden auslösen, das zeigen die Fernsehbilder nicht. Ewige Flüchtlingsströme in der Halbtotalen und die schon rituellen Bilder weinender Kosovo-Frauen können nicht wirklich das Leid vor Augen führen, das diesen Menschen angetan wird.

Sie erzeugen durch die formalen Zwänge der Mediengesellschaft nur die schlimmste Zeitbombe in einem Krieg: Langeweile und damit Desinteresse gegenüber jeglichem Leid.

Krieg als Eskalations-Spiel

Die scheinbare Nähe zum Kampf wird durch die Trennwand einer Bildröhre zur unüberwindbaren Kluft zwischen den Vorort-Geschehnissen und der Medienmaschinerie, die nur noch Neuigkeiten in ihrer Berichterstattung brauchen kann und damit auf Eskalation oder Deeskalation des Krieges angewiesen ist. Der erste Weltkrieg mit seinen Stellungskriegen wäre so schnell medial nicht mehr vermittelbar gewesen. Drei Jahre Schützengräben in Flandern hätten es ZDF-Spezial schwer gemacht. Und Jugoslawien scheint daher heute im Medienkrieg die bessere Waffe in der Hand zu haben: die Einförmigkeit der Ereignisse. Eine Form, die vor allem die Differenz einer Entwicklung darstellt, und mit der Nachricht, daß auch heute wieder alle Züge heil in Bahnhöfen ankamen, nichts anfangen kann, wird sich sehr bald gegen die Macher in Brüssel wenden, deren stetiger Druck auf Belgrad in solchen Bildern nur noch lächerlich gemacht werden kann.

Der "chirurgische" Videokrieg des ausgehenden 20. Jahrhunderts bleibt so stark in den Bildschirmen gefangen wie ein Computerspiel. Man schaltet aus und Lara Croft wartet neben Clinton und Fischer. Jede neue Entwicklung gleicht einem schwierigeren Level, der mit zunehmender Gewöhnung an Attraktivität verliert und dann ab einer gewissen Komplexität enerviert. Die immer gleichen Pressekonferenzen mit den immer gleichen Aussagen machen den Kriegsalltag nicht erfahrbarer. Die vierte Gewalt im Staat stumpft gegenüber diesen Themen ab, weil sie diese Themen abstuft.

Konsequenz: Selbst die Realität wird ausgeblendet. Der Flughafen RheinMain wird als Hauptnachschubbasis geflissentlich übersehen, und 300.000 serbische Mitmenschen in der Bundesrepublik sind ein Tabu in den eigenen Gedanken. Dabei geht der Krieg auch von deutschem Boden aus:

Christoph M. erzählt seine Anekdoten, während wir in Bad Tölz auf einer Parkbank sitzen und in die Sonne blinzeln. Ein Kampfjet donnert vorbei und triggert seine Erzählungen an. Er hat scharfe Munition an Bord, ist auf dem Weg von Penzberg nach Belgrad.