Willkommen in den Südstaaten!

Die Front der Flüchtlinge zwischen Baton Rouge, Louisiana, und Hattiesburg, Mississippi

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Als ich neulich in New Orleans, mon amour schrieb, mit dem Untergang von New Orleans verlöre die Welt eine einmalige Stadt, hagelte es empörte Kommentare. Viele Leser fühlten sich offenbar auf den Schlips getreten. Sie hatten offenbar "einmalig" als "besser" missverstanden, und vor allem hatten sie dieses "besser" auf Deutschland - auf sich - bezogen.

Dabei steht außer Zweifel, dass New Orleans tatsächlich völlig einzigartig ist. Das sagen sogar alle, die in der Region um die Stadt herum leben. Und sie beklagen sich, weil die Welt nur noch auf New Orleans schaut. Denn Katrina hat 234.000 Quadratkilometer verwüstet - in der englischsprachigen Presse spricht man von einem Gebiet so groß wie Großbritannien. Das wäre mithin fast ganz Deutschland bis auf Baden-Württemberg und Bayern.

Ein Blick auf die Innenstadt von New Orleans von dem kleinen Vorort Gretna aus. Das Konferenzzentrum, das neulich unrühmliche Schlagzeilen machte, liegt hinter dem großen Kreuzfahrtschiff. Foto vom Autor, aufgenommen im letzten Winter

Voreingenommen?

Ist New Orleans wirklich so einmalig, oder es ist einfach meine Heimat? Keineswegs: Ich habe länger in Südmississippi als in New Orleans gelebt. Mississippi ist auch meine Heimat. Aber um sicherzugehen, fragte ich einen Freund aus Baton Rouge, ob er auch meint, dass die Welt etwas Einmaliges an New Orleans hat. Man muss dabei wissen, dass die Menschen aus Baton Rouge und New Orleans etwa so befreundet oder verfeindet sind wie Badenser und Schwaben oder Norddeutsche und Bayern. Deshalb verblüffte mich seine Deutlichkeit. "Soll das ein Witz sein?" sagte er: "Baton Rouge ist nichts besonders."

Stimmt. Von Shreveport, Louisiana, bis Georgia: alles typisch südstaatlich - bis auf New Orleans, mon amour. Die Deutschen tanzen sich eins ab in der Disco bei "70s Night", wenn "Sweet Home Alabama" gespielt wird. Wie viele von ihnen wissen, dass die Nummer eine Kampfesansage auf das "Alabama" des Kanadiers Neil Young ist:

Well I heard Mr. Young sing about her
Well I heard ol' Neil put her down
Well I hope Neil Young will remember
A southern man don't need him around anyhow.

Young hatte zuvor geschrieben: "Alabama, your Cadillac has got a wheel in the ditch and a wheel on the track." Als Pennäler damals in der Hauptstadt von Mississippi (Jackson) habe ich nicht begriffen, weshalb Young ausgerechnet über Alabama herfällt. Wenn man mitten in Mississippi wohnt, ist es nicht evident, weshalb Alabama schlechter als Mississippi, Arkansas oder Louisiana sein soll. Weshalb New Orleans anders ist, darauf müssen wir später zurückkommen. Wenden wir uns erst einmal den übersehenen Menschen im Gürtel drum herum zu, wohin sich die Krise verlagert hat - wohl für die nächsten Monate.

Die Menschen aus New Orleans sind einzigartig, wunderbar, so freundlich, so besonders.

Ein Freund aus Baton Rouge

Welcome to the South, New Orleanians

Baton Rouge, die Hauptstadt von Louisiana, platzt aus allen Nähten. Die Menschen dort nehmen alle New Orleanians auf, so lange dies irgendwie geht, aber manche haben diese "Ausländer" laut der New York Times auch mit Argwohn betrachtet - schließlich stammen sie aus einer andersartigen Kulturinsel eine halbe Stunde östlich. Baton Rouge ist eine relativ kleine Stadt (rund 300.000 Einwohner), die gerne ihre Ruhe hat. New Orleans ist eine Stadt, die nie schläft, sondern höchstens in Ohnmacht fällt.

Man fürchtete in Baton Rouge Zügellosigkeit und Gewalt - die Kehrseite der Nonchalance und Lebenslust, die New Orleanians eigen sind. Einer aus Baton Rouge wird in der New York Times dahingehen zitiert, dass man nötigenfalls zur Selbstjustiz schreiten würde. "This is the South. We will take care of it." Das würde ich gefühlsmäßig so übersetzen: "New Orleanians, willkommen in den Südstaaten."

"Quatsch", sagt John Zachary, Mitarbeiter eines Subunternehmers der FEMA in Baton Rouge in einem Telefongespräch am Mittwoch. "Natürlich waren die Menschen in Baton Rouge in den ersten Tagen aufgebracht. Wir hatten auch 5 Tage lang keinen Strom. Wir sind überflutet mit Flüchtlingen und wussten damals nicht, wie wir damit fertig werden sollen. Aber die Presse gabelt sich irgendwelche Leute auf, die in Panik sind, und stellt uns alle so hin, als hätten wir Rassisten Angst vor einer schwarzen Horde aus New Orleans. Das stimmt nicht."

Vielleicht nicht mehr, aber die Angst scheint es am Anfang durchaus gegeben zu haben. So berichtet CNN am Dienstag über einen bizarren Zwischenfall in den ersten Tagen nach der Flut, der sich auf der Brücke abgespielt haben soll - über dem Mississippi zwischen der Stadt New Orleans und der so genannten "West Bank" auf der Südseite [sic!] des Flusses, wo sich der Stadtteil Algiers und die Stadt Gretna befinden.

Polizisten aus Gretna - einem vorwiegend "weißen" Vorort - hätten vorwiegend schwarze New Orleanians (unter anderem Frauen, Kinder, und ältere Menschen) daran gehindert, New Orleans zu verlassen. Es sei von "Warnschüssen in die Luft" die Rede. Der Polizeichef von Gretna bestritt, dass seine Beamten Warnschüsse abgegeben hätten, aber er gab zu, die Menschen davon abgehalten zu haben, die Brücke zu überqueren, nachdem man gesehen habe, was sich am Superdome abspielt. Er wird in CNN mit den Worten zitiert, dass Gretna nicht auf die Aufnahme von Tausenden von Flüchtlingen vorbereitet gewesen sei.

Ich war stutzig - schließlich kommt man in Gretna gar nicht an, wenn man von New Orleans aus die Brücke namens Crescent City Connection überquert, sondern erst in Algiers, einem Stadtteil von New Orleans. Hat etwa der Sheriff von Gretna seine Grenzen überschritten, um seine Stadt innerhalb von New Orleans zu "verteidigen"? Und die Polizei von New Orleans sah tatenlos zu?

Die Crescent City Connection, wo die über den Mississippi gespannte Brücke auf der Westbank-Seite herunterkommt. Dort, wo ich stand, als ich das Foto schoss, ist ein kleiner Keil von Gretna, doch bereits wenige Hundert Meter hinter den Bahngleisen verläuft die Grenze zu Algiers, und ganz in der Ferne kommt die Brücke endlich in Algiers zu Boden. Auf der anderen Seite (siehe Foto oben) kommt die Brücke fast genau am Superdome herunter. (Foto vom letzten Winter)

"Endlich einer, der die geographische Lage persönlich kennt", meinte Gretnas Polizeichef Lawson, der mich spät am Mittwoch abend zurückrief, um diese Frage zu beantworten. Er habe es nämlich satt, mit der nationalen Presse zu sprechen, die nur auf Sensationen aus sei und keine Ahnung von der Lage habe.

Er wiederholte seine Behauptung, dass seine Beamten keine Warnschüsse abgegeben hätten (wer's glaubt, wird selig?), und erklärte außerdem, dass er mit der Crescent-City-Connection-Polizei (die die Brücke überwacht) zusammengearbeitet habe, um die Brücke gemeinsam zu schließen, wie die Washington Times auch schon vor Tagen berichtete. Die Schließung der Brücke sei also keine Einzelaktion von weißen Polizisten aus einem Vorort, die die Schwarzen nicht reinlassen wollten, sondern eine koordinierte Aktion, und seine Polizei sei nur für eine der Abfahrten von der Brücke zuständig gewesen - schließlich wären die Flüchtlinge in Gretna keineswegs besser aufgehoben gewesen. Er habe nämlich befürchtet, dass ein Schiff, das auf dem Mississippi trieb, den Deich vor seinem Städtchen rammen und kaputt machen könnte:

Dann wäre hier der Mississippi reingelaufen. Die Raffinerie am Hafen von Gretna ist schon beschädigt und der Diesel hat die Erde verseucht. Das Wasser stand Oberkante-Unterlippe am Deich. Drüben am Superdome und im Conference Center waren die Leute zumindest trocken. Stellen Sie sich vor, wir hätten 10.000 Menschen hier angenommen und der Deich wäre gebrochen. Auch im Trockenen hätten wir nichts zum Essen und Trinken für sie gehabt.

Lawson legte Wert darauf, dass sein Städtchen mit rund 17.500 Einwohnern für New Orleanians getan habe, was es konnte. Er habe die Zwangsevakuierung seiner Stadt angeordnet und dann noch Tausende aus dem benachbarten Algiers und New Orleans mit Bussen der Stadt Gretna in Sicherheit außerhalb der Stadt gebracht - "bis uns der Diesel ausgegangen ist".

Am Mittwochmorgen hat Gretna wieder aufgemacht, allerdings erst mit Ausgangssperre. Noch ist kaum jemand zurückgezogen, denn es gibt nicht überall Strom und Telefon. Aber, so Polizeichef Lawson, Gretna möchte ab sofort als intakt gebliebenes Städtchen seinen Teil zum Wiederaufbau von New Orleans beitragen. Der Hafen von New Orleans läuft erst langsam wieder an. Manches laufe deshalb über den kleinen Hafen in Gretna.

Von Red Stick nach Osten

Die Moral unter den Menschen in Baton Rouge sei gut, so Zachary, auch unter den FEMA-Mitarbeitern, die tagtäglich mit der Krise fertig werden müssen. "Wir wissen, dass wir eine wichtige Arbeit tun", sagt Zachary. Zum "Blame Game" (wer ist schuld an der Katastrophe?) könne er sich als einfacher Mitarbeiter nicht äußern, aber allen sei klar, dass zu viel Bürokratie im Spiel war.

Man habe sich in Baton Rouge darauf eingestellt, dass die Stadt über Nacht 50% mehr Menschen aufnehmen muss. "Eine Fahrt, die früher 20 Minuten dauerte, dauert jetzt eine Stunde", so Zachary. Man stehe überall lange Schlage. "Aber wir haben unsere Verwandten, unsere Freunde aus New Orleans aufgenommen. Wir werden schon damit fertig. Die Lage beruhigt sich."

90 Minuten nördlich von New Orleans in Hattiesburg, Mississippi, sieht die Lage ähnlich aus. 150 Kilometer von der Küste entfernt waren die Schäden noch enorm. Die Stadt mit rund 30.000 Einwohnern "ist vollgestopft wie New York City", so mein Vater, Apotheker in der Gegend. Die Infrastruktur der Stadt sei komplett überfordert, aber die Menschen würden sich nicht beklagen. Immer noch hätten nicht alle Menschen auf dem Land Strom. Er habe selbst eine Woche lang mit einem Generator in der Apotheke arbeiten müssen. Die Menschen kamen von der Küste an, hatten weder Geld noch Rezepte, brauchten aber Medikamente.

Man kann sie schlecht zum Arzt schicken, so viele haben wir gar nicht. Deshalb führen wir eine Kartei für alle, die nicht zahlen können. Manche Apotheken-Ketten haben die Patientendaten noch zentral gespeichert. Dann können wir alles schnell nachvollziehen. Bei anderen muss ich entscheiden, ob das Medikament als Droge missbraucht werden könnte, ob ich dem Menschen glaube. Sie stehen einfach da mit der leeren Packung.

Eine gewisse Flexibilität stellt sich also ein. Nachdem alle Regierungsebenen nach Vorschrift vorgegangen sind und nicht schnell genug reagiert haben, werden jetzt Augen zugedrückt. Die Menschen haben, so Zachary, das Gefühl, dass die Ehrfurcht vor Zuständigkeiten insbesondere die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und dem Staat Louisiana lahm gelegt habe. Die Amerikaner wünschten sich, man hätte den Posse Comitatus Act, der Bush anscheinend davon abhielt, Truppen früher nach New Orleans zu entsenden, einfach gebrochen und hinterher um Vergebung gebeten. "Manchmal bekommt man die Vergebung leichter als eine Erlaubnis", so Zachary. Auch dazu später mehr