Willkommen in der Postdemokratie

Seite 5: Ein ungeheures Identifikationspotenzial

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Dabei birgt diese Pseudofreiheit einer Scheindemokratie, in der die Bürger nur über die effizientesten Wege zur Optimierung des als naturwüchsig imaginierten Wirtschaftssystems abstimmen und diskutieren können, ein ungeheures Identifikationspotenzial mit sich. Sobald die Bürger über die konkrete Ausformung, über die Nuancen der unabänderlichen Systemzwänge und Kapitalimperative abstimmen können, setzen bei ihnen Prozesse der Verinnerlichung ein, die zu einer umfassenden Selbstdisziplinierung führen.

Durch die Wahlen wird die Illusion befördert, die durch autoritäre Diskurse vermittelten Imperative der Wirtschaftsmaschinerie würden dem Eigenen subjektiven Willen entsprechen. Und wer würde sich schon dem eigenen Willen nicht unterwerfen wollen? Hiernach ärgert man sich höchstens, dass "die da oben" eh wieder alles versauen würden.

Aktive Mitwirkung an der Optimierung der Ausbeutungs- und Herrschaftstechniken

In der gegenwärtigen Systemkrise bringt diese kapitalistische Pseudodemokratie eine reale Dystopie hervor, die den Albträumen George Orwells und Aldous Huxleys ebenbürtig ist: Der scheinbar mündige Bürger (in Wirklichkeit ein ohnmächtiges Objekt im heteronomen Prozess der Kapitalverwertung) wählt die Art und Weise, wie seine verstärkte Ausbeutung und Entfremdung konkret zu organisieren und zu vervollkommnen ist. Keine Herrschaftsform ist effizienter, als diejenige, die ihre Herrschaftsobjekte dazu bringen kann, an der Optimierung der Ausbeutungs- und Herrschaftstechniken aktiv mitzuwirken.

Diese Selbstdressur und Verinnerlichung der kapitalistischen Systemimperative, die im öffentlichen Diskurs in Orwellscher Manier als "Demokratie und Freiheit" tituliert wird, kann in der gegenwärtigen Krise kaum noch aufrechterhalten werden. Das liegt einfach daran, dass es in vielen Ländern keine gangbaren Wege zur Optimierung oder auch nur zur Aufrechterhaltung der Kapitalverwertung gibt, über die in demokratischer Manier mit einer Aussicht auf Erfolg abgestimmt werden könnte.

In der gegenwärtigen Systemkrise, die global ein riesiges Heer "überflüssiger" Menschen produziert, werden diese Lohnabhängigen aus dem Arbeitsprozess schlicht ausgestoßen und der Verelendung überlassen. Somit verlangt die kapitalistische Krisenlogik - die in Europa mit besonderer Hingabe von Schäuble und Merkel exekutiert wird - schlicht die weitgehende sozioökonomische Marginalisierung des überflüssigen "Menschenmaterials." Das Kapital verlangt folglich von den Bürgern etwa in Griechenland, Spanien oder Portugal den ökonomischen Selbstmord, umgesetzt durch immer neue Sparprogramme.

Und eben hier scheint nun die tiefe Absurdität des Referendums in Griechenland auf: Es handelte sich angesichts der deutschen Dominanz in der Eurozone de facto um die Wahl zwischen verschiedenen Formen des ökonomischen Selbstmordes. Grexit in den Failed States oder Schuldknechtschaft - dies war die Wahl, vor der Griechenlands Wähler standen.

In der gegenwärtigen Krise blättert der demokratische Lack an der zunehmend stotternden kapitalistischen Verwertungsmaschine ab, während der barbarische Kern kapitalistischer Vergesellschaftung - die totale Konkurrenz in allen Gesellschaftssphären - immer brutaler und deutlicher zutage tritt. Das Härte predigende Deutschland ist somit letztendlich das Subjekt, das diese autoritären und barbarischen Krisentendenzen auf europäischer Ebene exekutiert. Und auch hier können zum letzten deutschen Griff nach der Weltmacht gezogen werden.